19.08.2008

Nochmals über die Waldorgkindergärten. Was im Kommen ist.

Mein letzter Blogbeitrag handelte über eine Aussage von Wolfgang Saßmannshausen. Ich zitiere den Satz noch einmal: „In den Waldorfkindergärten haben gegenwärtig Menschen die Verantwortung, die keinen Bezug zu dem eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik haben.“ Es gibt zwar begreifliche Gründe, die zu dieser Auffassung führen, trotzdem glaube ich eher nicht, dass die Aussage so stimmt.

Ich habe in meinem letzten Beitrag versucht deutlich zu machen, dass entscheidend ist, was man diesbezüglich sucht. Wenn man die üblichen waldorfpädagogischen und anthroposophischen Vorstellungen erwartet, kann man tatsächlich meinen, dass die Aussage stimmt. Hält man es aber für möglich, dass der Wille zur Anthroposophie sich auf andere Arten und Weisen zeigen, sieht die Wirklichkeit ganz anders aus. (In meinem Buch „Mittendrin – Anthroposophie hier und jetzt“ habe ich dieses Thema ausführlich behandelt.)

Heute möchte ich der Frage nachgehen, ob man tatsächlich von einem „eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik“ sprechen kann. Gibt es so etwas? Und falls ja, was macht diesen Kern aus? Mit dem Begriff „Kern“ habe ich in diesem Zusammenhang ein Problem. Ein Kern ist ein Punkt, eine „Eindeutigkeit“ – nur als solcher erkennbar und vorstellbar in Raum und Zeit. In der geistigen Welt gibt es aber gerade keine „Kerne“. (Auch ein „Ich“ ist kein Kern – eher ein peripheres Phänomen, das atmosphärisch in einem sich ständig verwandelnden Umkreis erscheint. Der Gedanke, dass das „Ich“ eine Art geistige Murmel ist, die irgendwo in mir versteckt ist, ist irreführend.)

Nun könnte man sagen, dass das Wort „Kern“ in diesem Zusammenhang als Metapher verstanden werden soll. Das kann sein – mir scheint diese Metapher dann aber unglücklich gewählt zu sein. Denn wenn von einem „eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik“ gesprochen wird, entsteht leicht der Gedanke, dass es dabei um eine bestimmte Wahrheit, eine spezifische Sichtweise, ja, um ein-zwei-drei Sätze, die ein für allemal festlegen, was den „eigentlichen Kern der Waldorfpädagogik“ ausmacht, geht. Ich meine aber, dass gerade das in Bezug auf die Waldorfpädagogik und die Anthroposophie nicht geht. Mit dem Sozialismus, dem Kapitalismus, dem Marxismus, dem Darwinismus und dem Liberalismus kann man das vielleicht machen – mit der Anthroposophie gerade nicht.

Was macht die Waldorfpädagogik aus? Mir scheint die Waldorfpädagogik eine spirituelle und soziale Bewegung zu sein, die darauf schauen will, was „vielleicht im Kommen“ (so würde Jacques Derrida das möglicherweise sagen) ist. Das Schauen auf das, was vielleicht im Kommen ist, in & mit & durch die Kinder, ist eine unbestimmte & absichtslose Tätigkeit, die von Liebe & Wärme & Neugier genährt wird. Die so genannte pädagogische „Methode“ der Waldorfpädagogik besteht daraus, dass jeder Mensch (ob Kind oder Vater oder Mutter oder Erzieher oder Lehrer) als ein einmaliges & verwirrendes & ungreifbares Rätsel gesehen wird, das alle Rahmen sprengt und trotzdem dringend einen Rahmen braucht.

Was vielleicht im Kommen ist, ist unbekannt. Was vielleicht im Kommen ist, braucht eine wohlwollende Einladung, einen Empfang, eine bejahende Kultur. (Rudolf Steiner würde sagen: eine michaelische Kultur.) Was vielleicht im Kommen ist, kann nur in Freiheit verstanden und gestaltet werden. Ja, dieses verwirrende Zusammenfließen von verstehen & gestalten, und auch umgekehrt: von gestalten & verstehen, macht die unmethodische Methode der Waldorfpädagogik aus. Was vielleicht im Kommen ist, ist nicht unbedingt nur gut & schön & wahr. Auch Schlechtes & Hässliches & Ungutes ist im Kommen. Die Waldorfpädagogik ist nicht so naiv, dass sie meint, in dieser Hinsicht eine bestimmte Moral durchsetzen zu können.

Die Waldorfpädagogik möchte überall anders aussehen. Ich meine nicht nur: in Peru anders als in Deutschland. Ich meine auch: in Solingen anders als in Erftstadt. Und ich meine auch: in Köln anders als in Köln. In der Waldorfpädagogik stehen die Schicksale der Menschen im Zentrum – die Schicksale der Kinder, der Eltern, der Erzieher, der Lehrer, der Vorstände... Aus den einzigartigen Schicksalen möchten die Kindergärten gestaltet werden. Denn das heißt ja: Anthroposophie hier und jetzt. Und das heißt auch: aus Freiheit gestalten. Um mit dem Pädagogen und Musiker Pär Albohm aus Schweden zu sprechen: die Waldorfpädagogik möchte eine intuitiv-improvisierende Pädagogik sein.

Die Waldorfpädagogik hat auch eine gesellschaftliche Aufgabe. Kindertagesstätten, Kindergärten und Schulen sind ja gesellschaftliche Einrichtungen. Und der Gesetzgeber schreibt vor, wie ein Kindergarten zu funktionieren hat – und gerade durch diese Tatsache drückt sich immer ein Denken, ein Fühlen und ein Wollen aus. Ich meine, dass diesbezüglich die Waldorfbewegung in eine Isolierung geraten ist. Was Waldorfleute denken, fühlen und wollen, ist auf der gesellschaftlichen Ebene leider kaum relevant. Auf Vertreter der Waldorfpädagogik wird in der öffentlichen Debatte nicht gehört.

In der Sozialen Dreigliederung von Rudolf Steiner und in den Betrachtungen von zum Beispiel Michel Foucault könnte die Waldorfbewegung wichtige Quellen zur Selbstbestimmung finden. Mit der Frage der Selbstbestimmung und Selbstgestaltung ist aber auch ein Kampf verbunden, der nie wirklich geführt worden ist. Die Waldorfbewegung hat sich – begreiflicherweise – hauptsächlich mit der Frage, wie Nischen in der öffentlichen Gesellschaft gefunden werden können beschäftigt. Eine inhaltliche und willentliche Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit hat nicht stattgefunden - aus Angst, die gefundenen Nischen aufs Spiel zu setzten.

Kampf ist Begegnung. Ich meine, dass die Waldorfbewegung die Begegnung mit der Öffentlichkeit dringend braucht.

Was ist vielleicht im Kommen? Ich würde sagen, dass sich in der heutigen Lage der Waldorfbewegung ein Wille zur Erweiterung ausdrückt. Die Anthroposophie hat tausend Gesichter. Statt auf einen „eigentlichen Kern“ zurückzugreifen, ist eine periphere Aufmerksamkeit gefragt, eine Beweglichkeit des Denkens, einen Schritt ins weite Feld der möglichen Intentionen. Schauen auf das, was im Kommen ist, heißt, das Fremde erstmal herzlich bejahen.

Mit Dank an Sophie Pannitschka

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle, danke für die beiden Texte über die Waldorfkindergärten. Du hast mir aus der Seele gesprochen.
Liebe Grüße
Ruthild

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle, mit einem lieben Menschen habe ich heute ein ähnliches Feld bewegt wie Du mit diesem schönen Text; die Vorstellung des ich als geistige Murmeln ist unglaublich treffend. Auch die Vorstellung eines "Kerns der Anthroposophie" ist, wie Du sagst, so eine Murmel-Vorstellung. Ich bin mittlerweile überzeugt: je realer der Umgang "mit dem Geist" wird (Vorsicht, auch hier Murmeln!) umso sparsamer, umschreibender möchte man mit den Begriffen umgehen. Insbesondere gilt das für das sogenannte "Ich", das uns Anthroposophen tragishcerweise, möchte ich fast sagen, so lieb ist. Was wir denn da so alles an Eigenem, Ur-Persönlichem, Unsterblichem retten wollen....
Nochmals lieben Dank nach Köln, überhaupt für das sympathische projekt hier,
Jens Heisterkamp

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Lieber Jens, schauen wir mal auf das Glasperlenspiel? Wie heisst der Mensch auch wieder? Ach ja, Josef Knecht! Herzlich, Jelle

Anonym hat gesagt…

Mein Gott, ich habe selten so unverständliches, wirres Zeug gelesen.

Ist das ein Forenzusammenschluss der deutschsprechenden psyhiatrischen Kliniken?

Oder Sektengeschwafel?

Oder eifac nur dummes Intelektuellenewäsch?

Geistige Murmel...........

Ihr habt doch einen an der Murmel:-)

Anonym hat gesagt…

Lieber Jelle
Oft habe ich mir überlegt wie es wohl den Meschen aus meiner Vergangenheit geht, die mich geprägt und gehalten haben. Menschen wie du und die Menschen aus dem Berghaus, die mit einem einzigen Kommentar einen Denkvorgang auslösen können... Ich war damals nicht in der lage mich zu bedanken und möchte es auf diesem weg nachhollen- Danke, für all die richtungsweisenden Denkanstöße ohne mir eine Meinung aufzuzwingen. Chiara

Jelle van der Meulen hat gesagt…

Liebe Chiara, wunderbar von Dir zu hören! Falls du magst, schreib mir mal eine Email, wie es Dir so geht. Herzlich, Jelle

Anonym hat gesagt…

Liebe Chiara, Jelle hat mich darauf hin gewiesen, dass du dich auf seinem Blog gemeldest hast. Schön von dir zu hören. Deine Worte haben mich sehr berührt. Melde dich doch, wenn du Lust dazu hast. Liebe Grüße, Kike. (kike@speckenwirth.de)