Mein erster Freund war ein Verstorbener. Über Rogier
Zwischen mir und Rogier war die Welt immer in Ordnung gewesen. Er war klein, hatte große blaue Augen, sagte wenig und wollte immer spielen. Obwohl wir nicht in die gleiche Klasse gingen, trafen wir uns immer wieder auf dem Spielplatz der Schule um einander Tennisbälle zuzuwerfen. Ich meine mich zu erinnern, dass Rogier die Bälle immer so warf, dass ich sie leicht fangen konnte. Und weil Bälle fangen nicht so direkt meine Spezialität war, habe ich mich über das erfolgreiche Spiel immer gefreut.
Viel zu besprechen hatten wir nicht. Ich glaube, dass wir beide schweigsame und träumerische Kinder waren, die bis dahin die entscheidende Bedeutung von Auseinandersetzung, Kampf und Reibung noch gar nicht verstanden hatten. Die Welt war für uns beide in Ordnung, wenn wir es schafften, ungestört Bälle zu werfen und zu fangen. Wir brauchten nachher nicht einmal zu sagen: „Morgen wieder?“ Wir wussten einfach, dass wir es morgen wieder machen würden, wenn das Leben es uns ermöglichte.
Und dann war Rogier auf einmal nicht mehr da. Er war bei Gott. Dass er nicht mehr da und bei Gott war, hieß aber nicht, dass er nicht mehr da war. Er hatte auf dem Spielplatz eine leere Stelle hinterlassen, ein Vakuum, das seine Existenz deutlich bemerken ließ. In den ersten Wochen nach seinem Tod schien es mir so zu sein, dass Rogier fast noch nachdrücklicher anwesend war als vorher. Hätte ich damals die richtigen Worte gehabt, hätte ich gesagt: „Gerade weil er nicht da ist, spüre ich seine Nähe“.
Und in dieser Nähe geschah etwas. Rogier wurde in meine träumerische Innenwelt aufgenommen. Monate lang erschien er als Akteur auf meiner inneren Bühne, sprach entschieden von diesem und jenem, erlebte Abenteuer mit mir, machte Reisen mit mir. Er war immer dabei, wenn ich den langen Fußweg von der Schule nach Hause ging, an den Teichen entlang, wo ältere Herren saßen, rauchten und angelten. Ja, diese Herren: ich hatte mit keinem von ihnen je ein Wort gesprochen, meinte aber genau zu wissen, dass sie alle etwas Großes und Unbekanntes vorhatten. Und dankbar wusste ich, dass es ein Privileg war, die Herren beobachten zu dürfen. Was sie genau vorhatten? Ich hätte es nicht sagen können.
Und ich teilte mit Rogier all meine Geheimnisse, wovon es damals eine ganze Menge gab. Er wusste von meiner fast unerträglichen Faszination für die wunderbare und unberührbare Nase von meiner Klassenkameradin Klara, von den tödlich charmanten Sommersprossen von Tilly, von meiner höllischen Angst vor dem Zahnarzt, ja, von der Tatsache, dass ich gerade meinen Onkel Herman sehr mochte, obwohl er in unserer Familie aus irgendeinem Grund glatt als daneben galt.
Um Tennisbälle ging es ganz und gar nicht mehr.
Rogier war bei mir angekommen. Oder anders gesagt: er war in meine geheime Welt avanciert. Er war, so könnte ich jetzt sagen, ein richtiger Freund geworden.
Mit dank an Sophie Pannitschka
15 Kommentare:
immer wieder wenn ich ihre texte lese, frage ich mich: was machen sie eigentlich, wenn sie schreiben?immer wieder mache ich die Erfahrung dass etwas -besäftigendes- geschieht, als schnee, der auf Felsen fällt, etwas was mich von der alltägliche enge befreien vermag...entschuldigen sie die Schreibfehler,
und
danke.
4.6.08
schön gesagt, was anonym da eben gesagthat!
ich bin seit drei Tagen zum zweitenmale Oma geworden,hier bei mir zu Hause.Wer ist dieses kleine Mädchen, das so wohlig auf dieser Erde angekommen ist?Wie sie uns ansieht,wie sie lauscht und alles das was um sie schon hier war ehe sie geboren wurde... Da war sie anwesend und nun ist sie näher gekommen, ganz nah und unfassbar in ihren edlem Menschsein hier.
liebe Grüße an Jelle, von birgit
Freundschaft - das ist wie Heimat, wie zu Hause sein.
Und ich hoffe und wünsche, dass J. Derrida sich getäuscht hat und dass "Freundschaft - eben doch - eine gegenwärtige Gegebenheit" sein kann.
Herzliche Grüße, Birgitt
Danke! Der Prozess, der in dieser Erfahrung beschrieben wird, ist wunderschön und gibt Trost. Eine Freundschaft, die erblüht ist - trotz des physischen Todes, oder vielleicht sogar gerade deswegen? „Lebendige“ Freundschaft über den Tod hinaus. Der kleine Rogier, ein Begleiter auf allen Ebenen. Es scheint, als ob diese Freundschaft auf seelischer Ebene gerade durch den Tod so richtig erwachen und erblühen konnte - nachdem der Junge verstorben war. Er hat von diesem Moment an fast an Bedeutung gewonnen…Seine Stimme wurde hörbar. So eine allgegenwärtige Freundschaft, die nichts fordert trägt. Unter den Lebenden ist es ja manchmal nicht so einfach - und der Begriff „Freundschaft“ lässt sich nur vage definieren.
Deine Erfahrung weist über den Tod hinaus - Derrida weist in die Zukunft - was ist über Freundschaft im Hier und Jetzt zu sagen?
Lieber Anonym und andere,
zu Freundschaft im Hier und Jetzt:
Ist Freundschaft etwas, das erst wachsen muss, oder kann man nicht auch jedem Menschen, dem man begegnet ersteinmal freundschaftlich begegnen und dann sehen, was geschieht? Vielleicht dann, wenn man Menschen durch die Herzwahrnehmung ansieht, dann hat das doch immer etwas mit Freundschaft zu tun, oder? Also ich jedenfalls und da mögen mich sicher viele für sehr naiv und vielleicht unbedacht halten, versuche auf einer freundschaftlichen Ebene Menschen zu begegnen und lasse mich einfach von meinem inneren Impuls leiten. Vielleicht gibt es Unterschiede, was die Freundes-Kreise angeht, also engere und weitere Freundes-Kreise. Aber ein Freund ist jedenfalls schon mal jemand, den ich als Gleich-Gesinnten erfühle. Ob der mich dann auch als Freund(in) wahrnimmt oder nicht, das liegt ganz und gar bei demjenigen selbst und hat nichts mit mir zu tun. Muss Freundschaft auf Gegenseitigkeit beruhen?
Alles Liebe
Jasna
Liebe Jasna, ich fühle mich in einer Freundschaft wie zu Hause, wenn ich sein kann wie ich bin mit all meinen Unzulänglichkeiten und meinen Fähigkeiten, meinem Schmerz und meiner Freude usw., und wenn der Freund/in dies wahrnimmt und erkennt und aushält.
Muss Freundschaft auf Gegenseitigkeit beruhen? Diese Frage beschäftigt mich auch. Aber gibt es eine einseitige Freundschaft? Ich denke eine Freundschaft besteht aus gegenseitigem Interesse und Aufmerksamkeit.
Viele Grüße, Birgitt
Das stimmt, liebe Birgitt. Da muss ich mich fragen, ob ich anderen diese Aufmerksamkeit gebe. Das tue ich eigentlich erst dann, wenn sie meine Aufmerksamkeit erfragen. Das ist wohl so eine Erziehungssache. Ich gebe immer ersteinmal alles von mir preis und wenn jemand mir seine Unzulänglichkeiten, Fähigkeiten, Schmerzen, was auch immer, zeigen mag, dann nehm ich dieses Ich bin an. Aber es fällt mir schwer, Freunde danach zu fragen, ob sie mir all das von sich auch Preis geben wollen (is ja ein komischer Satz), ich meine ich frage niemanden, ob er mir seine Probleme erzählen möchte. Da bin ich zurückhaltend, weil das dann so nach unguter Neugier klingt. Wenn ich Aufmerksam bin, dann eher im inneren und warte, ob ein Freund etwas von sich preis geben möchte. ich denke das hat mit Respekt und dem Freien Willen zu tun. Aber deshalb kann es sein, dass z.B. in diesem Fall Ich, als Freundin unaufmerksam wirke, weil ich viel von mir spreche und preisgebe, wobei ich gerade damit eigentlich dazu ermutigen möchte, dass auch der "Freund(in)" die Scheu verliert, zu sich zu stehen. Wow, jetzt bin ich glaub ich vom Thema abgekommen. Von der Definition der Freundschaft zu der Frage "warum erzähl ich immer nur von mir?"
Na gut, so drehen die Gedanken ihre Kreise.
Es gilt wohl einfach, diese Waage zu halten in einer Freundschaft zwischen Dir und Mir.
Alles Liebe
Jasna
Guten Morgen Jasna!
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass ich nicht direkt fragen muss, ob der Andere mir von sich erzählen mag. In einer Begegnung entsteht dieses Miteinander - manchmal schon beim Kennenlernen, manchmal eben erst später, einfach so. Oder manchmal auch nicht, weil einer von beiden gerade nicht aufmerksam für den anderen sein kann. Aber vielleicht macht gerade das eine Freundschaft aus, dass man weiß, es ist alles möglich. Liebe Grüße, Birgitt
Wunderschön Birgitt, diese Ansicht teile ich und sie fühlt sich gut und wahr an. Dank für die Aufmerksamkeit.
Alles Liebe
Jasna
Wunderbare Schilderungen, Jelle. Und so angenehm, dass am Ende kein Steiner- Zitat folgt. Ich bin durch Deine Schilderung schon in meine eigene Kindheit versetzt (gleiches Alter), gehe zwischen unendlich hohen Brennesseln spazieren und sehe meinen Freund Ulrich fast vor mir. Ulrich ist übrigens später von einem Balkon gestürzt, aber erst in der Jugendzeit. Er ist auch tot.
Herzlich
Michael Eggert
www.egoisten.de
In der Grundschule hatte ich eine Freundin aus einer anderen Klasse. Sie hieß Lili. Ihre Schwester ging in meine Klasse. Ich aber schaute immer auf Lili. Ich sehe sie noch heute vor mir. Ein schmales, langes Mädchen. Immer wieder war sie für einige Wochen nicht in der Schule. Ihre Schwester sagte dann: "Sie ist in Rußland. Die sind da mit der Medizin weiter." Ich habe nie verstanden, worum es da eigentlich ging. Aber ich weiß noch gut, dass Lili von irgendeinem Zeitpunkt an keine Haare mehr auf dem Kopf hatte. Und eine Mütze trug. Ich sehe Lili noch heute vor mir. Sie ist gestorben. An "Leukämie" - wie man mir sagte. Aber ich wusste nicht, was das ist. Was ich aber wußte, und das kann ich heute noch spüren ist, dass ich innerlich mit Lili gesprochen habe. Immer wieder. Und ich denke noch heute an sie. Obwohl ich - vielleicht - damals in der Grundschule nie "wirklich" mit ihr gesprochen habe...
Ich würde sie eine Freundin nennen. Auch, wenn ich mich jetzt frage, was eigentlich Freundschaft ist und wenn ich - vielleicht - nie mit ihr gespielt habe. Was bedeutet der Unterschied zwischen einer inneren und äußeren Freundschaft?
Lassen sich aus den verschiedenen Beiträgen "Kriterien" für "Freundschaft" formulieren?
Und - in welchem Verhältnis steht Freundschaft zu Feindschaft?
Gruß!
Der Wunsch nach Freundschaften hat wohl auch immer etwas mit dem Wunsch zu tun, sich selber als Freund anzuerkennen und zu lieben. Es ist fast wie der Wunsch nach einer Liebesbeziehung, nur eben ohne den sexuellen Akspekt. Vielleicht kann erst jemand, der seinen inneren Freund/in gefunden hat, auch Freundschaften im außen wahrhaftig und bedingungslos eingehen, denn, wie Birgitt schon so schön geschrieben hat, ein Freund ist jemand bei dem ich so sein kann, wie ich bin, mit allem drum und dran.
Ich denke wir brauchen schon einen Gegenüber, eine andere Person als ich das bin, selbst im Inneren und eben auch im Inneren ist diese kreierte Person, mit der ich kommuniziere ja Ich. Es kann ja gar nicht anders sein, nicht wahr?
Mit wem auch immer ich im Inneren kommuniziere, das bin immer Ich und mein Gegenüber, mein Freund ist dasjenige, was ich mir als Idealbild, als Berater, als Vertrauter, als jemandem an dem ich wachsen möchte, kreiert habe.
Also bei innerer und äußerer Freundschaft geht es wohl immer einerseits um SO SEIN WIE ICH BIN aber weiter auch um das WACHSEN, an diesem Freund, mit diesem Freund/in.
Nur so eine Idee. Was meint ihr?
Alles Liebe
Jasna
Ich habe heute abend als ich meinem fast fertig modelierten Zwerg, den ich als Erinnerung an das Wunderschöne Botanikseminar die Hände modellierte, gedacht das es mit dem etwas schwierigen und ungemütlichen Satz von J. Derrida doch was auf sich hat. Ich bin am Warten.
Und jetzt, da ich die regsamen Kommentare gelesen habe, bin ich erstaunt und ich denke Jelle du bist erfreut solche Kommentargepräche lesen zu können.
Gruss Andrea
Liebe Jasna,
ich denke auch dass man zuerst sich selber bester Freund/in werden soll und dazu gehört auch viel echte Selbstliebe.
Dazu fällt mir zweierlei ein:
"Ein Freund ist einer, der kommt, wenn alle anderen gehen".
Und:
"Sich selbst zu lieben ist der Beginn einer lebenslangen Romanze".
Alles Liebe
Mimi
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