Ich möchte heute einmal über eine
Wolke schreiben, die gleichzeitig Außenraum und Innenraum ist; die
sich um uns herum befindet, auch zwischen uns, vor allem in uns –
um sie zu lokalisieren werden schon ein paar Präpositionen
gebraucht: an, auf, hinter, neben, in... Und um sie zu verstehen,
müssen wir weit in die Vergangenheit zurück gehen, dahin, als sie
im Indogermanischen noch „uelg“ genannt wurde, was ungefähr
„feucht“ bedeutete, „Nebel“ etwa, also Wasser in schwebendem
Zustand, langsam von oben nach unten kommend, oder umgekehrt von
unten nach oben steigend, leicht tanzend, weil sie von den Bewegungen
der Luft getragen wird, sich ausdehnend oder zusammenziehend... Die
Wolke umfasst und durchdringt uns, bewegt das, was hinter unserer
Haut strömt, löst es auf, vermischt es mit dem Wasser draußen, mit
dem Licht auch, das wie Milch ausgebreitet wird, wie Nahrung für die
Augen... Wir denken nicht mehr oft daran, aber wahr bleibt wahr: Wir
sind Wolkenwesen, die sich verirrt haben in feste Körper, in Händen
und Füssen stecken geblieben sind, an einem Baby sieht man es noch:
Es krabbelt, mammelt, löffelt, würmelt, verdrießelt und
verdrasselt wie eine Wolke, die es umgibt, es krabbelt und frütselt
und murmelt sich quasi aus der Wolke raus... Und wenn es mit seinen
scharfen Zähnen in meine Nase beißt, das macht es gerne, hat es
keine Ahnung davon, dass mir das weht tut, weil es als Wolke wohl
keine Schmerzen gibt... Und mein halb gespieltes und halb gemeintes
„Au“ ist höchstens der Schrei eines schwarzen Raben, der in der
luftigen Feuchtigkeit gleich verschwindet, nur einen leichten
Schrecken hinterlässt, ein befremdetes Staunen, das irgendwie zum
Körper führt, dorthin, wo alles trocken scheint, nur scheint... Ja,
das kleine und das große Bangen verankert uns in unserem Körper.
Die Wolke, möchte ich heute sagen, ist überall, sie ist nicht
verschwunden, auch wenn wir ihrer Präsenz nicht habhaft werden. Und
sie heißt noch immer „uelg“, ein Wort, das unser Mundwerk wolkig
und unsere Worte poetisch macht.
15.03.2013
17.02.2013
Neun Monate. Husch, Husch, Husch!!!
Neun Monate. Husch, Husch, Husch!!!
Unsere Tochter gibt Töne von sich, die
Bandbreite ihres kleinen Mundwerkes ist menschlich breit, wie sagte
Nietzsche auch wieder? – ach ja: allzu menschlich weit, ich meine:
sie kann fordernd schreien: ihr Anliegen mit ihrer Stimme so richtig
unmissverständlich auf einen Punkt bringen; oder traurig-süß-sauer
weinen: sich in den Weltschmerz hinein tönen; oder empört
klagen: weil ich nicht mit ihr spielen will, ich gerade schreibe;
oder vor reiner Freude einen Zitterstoß loslassen, einen
gesteigerten energetischen Seufzer: wenn ich sie auf dem Arm trage
und die Tür zum Garten öffne, dann weiß sie: jetzt gehen wir raus,
Husch, Husch, Husch!!! Heute früh in der Küche, sie saß im
Kinderstuhl, tönte sie einfach so vor sich hin, ich hörte zu, und
überlegte: was sollen denn diese Töne bedeuten? Die Laute
plätscherten ungezwungen hin und her, waren von gar nichts
gesteuert, verweilten einfach, meine Frau sagte: sie waren ohne
Absicht; sie schienen irgendwie impressionistisch etwas ausmalen zu
wollen, ohne etwas mitteilen zu müssen, sie umfassten nichts, sie
umfassten alles, allzu menschlich waren sie nicht, eher – ja,
welche Worte soll ich wählen? – engelhaft, oder
Willem-de-Kooning-haft, oder Chet-Baker-haft, nein, viele Worte
fallen mir nicht ein. Sicher ist jedoch, dass weitaus die meisten
Erwachsenen die Möglichkeit, sich ohne Absicht frei zu äußern,
längst verloren haben. Ist es nicht gerade DAS, was wir verlieren,
wenn wir „groß“ werden? Nur ein paar ganz große Künstler
schaffen es, sich diese Freiheit zu bewahren oder zurück zu
erlangen... Aber jetzt quengelt meine Tochter wieder, ich vermute
mal, sie möchte auf den Arm genommen werden, um in den Garten
gebracht zu werden, also: Husch, Husch, Husch!!!
27.01.2013
Universitätsstraße. "OOOAAA!!!"
Seine blonden Haare sind lang und wild,
die Haut seines Gesichtes ist roh, als wäre er ein Rocker, was er
allerdings bestimmt nicht ist, denn dafür ist er einfach too busy,
den ganzen Tag, er findet immer etwas zu tun, für seine Hände. Er
bringt Gegenstände von A nach B, von B nach C, deswegen ist er
wahrscheinlich jeden Samstagvormittag auf dem Flohmarkt an der Uni zu
finden, dort gibt es genug Dinge, die von A nach B, von B nach C
transportiert werden müssen, alte Kaffeemühlen, Hocker, Stühle,
Malereien, ich weiß nicht was alles, natürlich auch Bücher, Töpfe
und Klamotten... Nein, ein Händler ist er nicht, ich glaube nicht,
dass er sich auf das Kaufen und Verkaufen einlässt, irgendwie
scheint es mir so zu sein, dass er zu dem Kerngeschehen auf dem Markt
keine Beziehung hat, er ist einfach da, hilft den Leuten, geht
zwischen den Marktständen herum, sieht was zu tun ist, und tut es...
Und etwa alle neunzig Sekunden kommt etwas aus seinem Mund, ein
wilder und stoßender Klang, ein dringendes Wort ohne Bedeutung, kurz
aber laut, als ob er etwas von sich geben muss, dass ihn irgendwie
beherrscht, irgendwie bestimmt, irgendwie bewegt... Ich wüsste
nicht, wie der Klang hier wiederzugeben wäre, vielleicht kommt etwas
wie „OOOAAA“ dem Ausstoß nahe, jedenfalls ohne Konsonanten und
mit mindestens drei Ausrufezeichen!!!. Und jedes Mal fliegt dann ein
Vogel befreit nach oben, schwarz wie ein Rabe, umkreist das Hochhaus
und verschwindet in den Himmel, dorthin, wo die Wörter sowieso keine
Bedeutung mehr haben.
16.01.2013
Rathenauplatz. "Weil mein Körper Bewegung braucht..."
Mit einem Regenschirm, einem Rucksack
(an der Seite eine Flasche Wasser) und manchmal einem Apfel in der
Hand geht er mit großen und langsamen Schritten durch den Park am
Kölner Rathenauplatz, immer die gleiche Strecke, hundert Meter hin,
hundert Meter zurück, jeden Tag, stundenlang, egal wie sich das
Wetter gebärdet... Er dürfte etwa sechzig Jahre alt sein, sieht aus
wie ein Iraner, distinguiert und fein, bestimmt ist er kein grober
Handwerker, alles an ihm wirkt zart. Sein Blick geht nach innen, er
schaut auf nichts um ihn herum, auch nicht auf mich, scheint in einer
Wirklichkeit zu verweilen, die mit dem Park nichts zu tun hat. Etwas
Großes, Tiefes und vielleicht Schweres entschleunigt seinen Gang.
Als ich ihn vielleicht dreißig Mal im Park gesehen habe, halte ich
es nicht mehr aus, ich will von seinem Geheimnis erfahren. Ich gehe
auf ihn zu, frage warum er jeden Tag hundert Meter hin und hundert
Meter zurück geht, er blickt mich an, lacht freundlich und sagt:
„Weil mein Körper Bewegung braucht...“ Und das war es, mir ist
klar: Ich soll nicht weiter fragen. Als ich ihn am nächsten Tag
wieder sehe, wendet er seinen Blick ab, er will nicht angesprochen
werden.
08.01.2013
Dasselstrasse. "Die Menschen haben keine Ahnung!"
Er wohnt bei mir in der Straße, ein
paar Häuser weiter. Er droht vor Wut zu platzen, den ganzen Tag,
jeden Tag. Sprechen kann er kaum, eine Krankheit hat ihm seine Stimme
genommen. Wenn er anfängt zu sprechen, kommen dunkle Geräusche aus
seinem Mund, fast scheint es, als ob sie eher aus seiner Brust
kommen. Er hat einen Rollladen vor seinem Fenster, seine Wohnung
wirkt blind. Wenn er draußen vor der Tür den Bürgersteig kehrt,
was er jeden Tag mindestens einmal macht, schaut er wütend um sich.
Die Fußgänger spüren, dass sie ihn besser nicht ansprechen
sollten. Er würde platzen, vor Wut. Irgendwann, so sieht man, ist
dem Mann etwas zugestoßen, irgendeine gravierende Ungerechtigkeit
ist ihm widerfahren. Ich bin öfters an ihm vorbei gegangen, habe
mich gewundert, ja geschämt, fühlte Mitleid und Unbeholfenheit. Und
vorgestern habe ich ihn dann angesprochen, es war Sonntag, er hatte
mal wieder gekehrt... „Guten Tag“, sagte ich, „ich wohne
nebenan“. Er schaute mich an, wütend, und dreimal sagte er, es
klang wie eine Tonne, die die Kellertreppe herunter stürzt: „Die
Menschen haben keine Ahnung!“