In einem sehr schönen Kommentar schrieb „b. b.“ letzte Woche über „das Wunder des Erwachens des kleinen Kindes an sich selbst“. Im Kommentar wird von einer „feinen Arbeit“ gesprochen, „die jeden Tag neu zu beginnen ist“. Vermutlich arbeitet „b. b.“ in einem Kindergarten, denn sie oder er stellt die Frage: „In welcher Art und Weise müsste ein Kindergarten sich gestalten im Übergang zur Schule, ohne dieses Wunder zu zerdrücken?“
Wer sich in Kindergärten ein bisschen auskennt, weiß, wie dringend diese Frage ist. Mit der Schule fängt der Leistungsdruck an, mit dem Leistungsdruck beginnt der Umstand, dass die Ansprüche-von-außen das freie Erwachen an und zu sich selbst in den Hintergrund rückt. Das Leben mit „Vorschulkindern“ (eine Kategorie die gesellschaftlich definiert ist) ist in Kindergärten manchmal ein Abenteuer. Die Schatten der Schule reichen bereits bis in Kindergärten.
Amares ist ein „Ort für Kinder“ auf einem ehemaligen Betriebshof der Stadt Köln. Der Ort liegt im Stadtwald, umfasst ein spannendes Gelände, eine Reihe alter Garagen (die als Werkstätten umgebaut wurden), hat ein Team von Erzieherinnen und Erziehern, die vor Ort ebenfalls tätig sind: zum Beispiel als Künstlerin, Schmied, Unternehmerin oder Tanztherapeutin. Bei Amares gibt es im Moment zwei Kindergartengruppen: eine für Kinder unter drei und eine für Kinder über drei.
Aus der Gruppe der „Großen“ ist vor kurzem ein Verein mit dem wunderbaren Namen „Schleifenverein“ hervorgegangen. In diesem Verein gibt es zwölf „Vorschulkinder“, die sich im Sommer von Amares verabschieden werden, um in die Schule zu gehen. Bekanntlich wird von Vorschulkindern erwartet, dass sie im Stande sind, die eigenen Schuhschleifen zu binden, deswegen der Name „Schleifenverein“.
Um in einem Kindergarten mit dem Übergang in die Schule umgehen zu können, wird Humor dringend gebraucht. Der Ernst der Lage sollte besser nicht dadurch noch schwerer und schwieriger gemacht werden, dass die Erwachsenen sich auf einen Krampf einlassen. Die Kinder reagieren erstmals gar nicht auf die „Objektivität der Ansprüche“, sondern auf die Art und Weise wie die Erwachsenen damit offenbar umgehen. Die Leichtigkeit des Humors, auch wenn er einen Tick Ironie mitbringt, wirkt wie ein Frühlingstag: Die Schatten sehen nicht mehr so schlimm aus.
Humor wird aus Weisheit geboren. Aber mit einer gewissen Leichtigkeit ist es allerdings nicht getan, und die Mitarbeiter von Amares wissen das auch. Wenn wir von einer Kultur des Herzens reden und meinen, dass es (wie in meinem Blog der letzten Woche beschrieben) dabei um die Erkenntnis geht, dass „nicht die Umstände & Vorgänge & Prozesse die Hauptsachen des Lebens ausmachen, sondern die Art und Weise wie wir uns als Ich zu ihnen verhalten“, stehen noch ein paar weitere Fragen an.
Ich möchte einen Aspekt beleuchten. Ich bin der Meinung, dass die Pädagogen von heute, wollen sie sich wirklich souverän vom Ich aus zu den Lebensfragen in Kindergärten verhalten, nicht anders können, als prinzipiell „konspirativ“ zu sein. Der Schleifenverein bei Amares ist eine „leichtsinnige“ (schönes Wort!) und „subversive“ Organisation – auch an dieser Stelle mischt sich ein bisschen Ironie hinein – die unausgesprochen im Sinne von Michel Foucault einen „Ort des Widerstands“ darstellt. Kindergärten ohne den Geist des Widerstands sind schlechte Kindergärten.
Die Zuwendung zum Selbst – meinem Selbst und deinem Selbst, zum Selbst des Kindes – verlangt zweierlei. Einerseits gilt es die Umstände & Vorgänge & Prozesse scharf ins Auge zu fassen und zu respektieren. Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, die naiv auf Leistungsdruck setzt. Andererseits brauchen die Kinder eine uneingeschränkte Loyalität von Seiten der beteiligten Erwachsenen, in der Tat eine „konspirative“ Aufmerksamkeit.
Das Selbst des Menschen ist eine delikate Sache. Was „Alma“ & „Bela“ & „Konrad“ & „Svea“ (vier prominente Mitglieder des Schleifenvereins) ausmacht, ist nicht in Worte zu fassen, nicht einmal annähernd zu fixieren. Sicher ist allerdings, dass sie NICHT das perfekte Gegenbild der gesellschaftlichen Ansprüche sind. Das delikate Eigene entfaltet sich in sozialen Räumen des Vertrauens (das trifft nicht nur auf Kinder zu, sondern auch auf Erwachsene). Und ist Vertrauen nicht prinzipiell subversiv?
17.12.2012
16.12.2012
Aufbruch mit Scham. Im Zug nach Gummersbach
Mal wieder aufbrechen? Nach
fünfundvierzig Jahren? Mich mal wieder in den Fluss der Zeit
stürzen? Mich von Melodien leiten lassen? Mal wieder über eine
Schwelle gehen? Ohne Scham?
Diesmal nicht ohne Scham.
Der Mann ist noch jung. Er ist
unterwegs, im Zug, von Köln nach Gummersbach, lehnt sich bequem
zurück, liest ein Buch das ich kenne, das ich durch und durch kenne:
„Unterwegs“ von Jack Kerouac, „On the road“ heißt es bei
mir, ich habe es vor einer Ewigkeit gelesen, weil, ja, damals war ich
unterwegs, ich dachte: gegen den Strom, heute ist mit klar: es war
mit dem Strom.
Heimlich beobachte ich den jungen
Mann. Er liest über eine Vergangenheit, die nicht seine ist, warum
sollte er sonst Kerouac lesen? Mit dem heutigen Tag hat Kerouac nur
wenig zu tun, nicht gar nichts, weil eine Vergangenheit nur dann eine
Vergangenheit ist, wenn sie die Gegenwart berührt; nur im Nu, im
Jetzt gibt es so etwas Irriges wie Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft – ich meine: im Hier und Jetzt steigert sich die Gegenwart.
Behaupten, dass Kerouac brennend aktuell wäre, käme jedoch der
Aussage gleich, dass sich im Zug nach Gummersbach etwas bewegt.
Er liest weiter, ein Drittel des
Buches hat er hinter sich. Wie war es auch wieder mit Kerouac? Er war
ein Beat. Er wollte mit dem Herzschlag des Lebens leben, das heißt:
immer im Bus, nach Frisco, nach Denver, nach NYC. Die Details sind
mir nicht mehr so präsent, ich meine jedoch, er brauchte aus Mexiko
Papiere, um sich von seiner Frau zu trennen, so etwas... Die Ehe war
nicht in Ordnung, zu wenig Beat... Auch Allen Ginsberg kam in dem
Buch vor, hieß aber anders, weiß nicht mehr wie; er redete
allerdings über das Leben wie Karl Marx über das Kapital schrieb:
ziemlich überzeugend.
Aufbruch also, weg vom Hier und Jetzt
zu einem anderen Hier und Jetzt. Den Gesundheitsterror gab es damals
noch nicht; den Gedanken, dass das Höchste im Leben die Abwesenheit
von Krankheiten sei kursierte damals nicht, schlief noch wie ein
Jagdhund im Korb. Überall wurde immer geraucht, getrunken,
gekifft... Und gefickt... Die Poesie der Beats war irgendwie hart,
irgendwie zart, irgendwie dringend, irgendwie grenzenlos... Sie
sprach von Aufbruch ohne Scham...
Hit the road, Jack... Der Bummelzug
nach Gummersbach kommt an Dierenhausen vorbei, hält ein paar
Minuten, niemand steigt aus, niemand steigt ein, der junge Mann liest
weiter, verschiebt seinen Po manchmal ein bisschen, die Sitze sind ja
auch steif und unbequem. Aber er braucht sich nicht wirklich zu
bewegen, Kerouac hat es bereits getan.
Ich schließe meine Augen und bewege
mich. Und irgendwo spüre ich eine Sehnsucht nach Aufbruch, dieses
Mal jedoch nach einem anderen, nicht einem in Bussen oder Zügen (die
sind übrigens längst rauchfrei), nicht von dringenden Texten
begleitet (die sind längst veröffentlicht; was gibt es noch zu
schreiben?), nicht um Scheidungspapiere aufzutreiben (die Trennung
hat längst stattgefunden). Und vor allem: nicht ohne Scham.
Ohne Scham komme ich nicht zu mir.
28.10.2012
Wouter Hanegraaff. (1) Der verdorbene Begriff des Esoterischen
In seinem bemerkenswerten Esotericism
and the Academy. Rejected Knowledge in Western Culture, 2012 in
Cambridge erschienen, beschreibt Wouter J. Hanegraaff die Geschichte
des esoterischen Denkens in der westlichen Kulturwelt. Professor
Hanegraaf geht diskursiv-konstruktivistisch vor und dass heißt, er
bewertet die inhaltlichen Ergebnisse des esoterischen Denken als
solche nicht, sondern dokumentiert an Hand zahlreicher Quellen, wie
das westliche esoterische Denken in der Renaissance entstanden ist,
sich während der Zeit der Aufklärung weiter entwickelte und das
zwanzigste Jahrhundert erreichte.
Bemerkenswert an seinen Untersuchungen
ist, dass er das esoterische Denken nicht als irgendeine komische
Nische in der Geschichte des modernen Denkens behandelt, sondern als
ein Hauptakteur ansieht. Hanegraaff stellt überzeugend da, dass etwa
die philosophische Aufklärung ohne das esoterische Denken nie in
Erscheinung getreten wäre. Esoterisches Denken und aufgeklärtes
Denken zeigen sich wie Brüder, wie Kain und Abel.
Im fünfzehnten Jahrhundert sind es vor
allem die platonischen Humanisten wie Marsilio Ficino und Pico della
Mirandola, die sich in Florenz darum bemühen, eine Art Brücke zu
schlagen zwischen den alten Weisheiten aus dem Orient und dem
Christentum. In den alten vorchristlichen Mysterien sehen sie eine
Vorbereitung der christlichen Offenbarungen. Für Ficino zum Beispiel
war Orpheus ungefähr identisch mit Christus, für Pico war die
jüdische Kabbala eine verborgene Lehre, die direkt auf Moses
zurückging. Im Denken der Früh-Renaissance spielte auch der Perser
Zarathustra eine große Rolle, er wurde als der Urheber des
„magischen“ Weltbildes angesehen, was im Kern hieß, dass die
Natur als eine von geistigen Wesenheiten erfüllte Wirklichkeit
verstanden wurde.
Der geistige Humanismus von Ficino und
Pico wurde von Anfang an von Seiten der christlichen Aristoteliker
(sie waren auf Thomas von Aquin orientiert) kräftig attackiert.
Hanegraaff spricht diesbezüglich von einem „Schatten“ des
Humanismus: Je stärker die Platoniker die alten Weisheiten ins Licht
ihrer Aufmerksamkeit rückten, je vehementer wiesen die Aristoteliker
sie als heidnisch und häretisch zurück.
Und als sich dann etwa ein Jahrhundert
später die Bühne verwandelte – was sich bisher als „theologische“
Debatte innerhalb der Katholischen Kirche vollzogen hatte, wurde eine
„wissenschaftliche“ und somit „akademische“
Auseinandersetzung – kamen neue Werte ins Spiel. Was bis dahin noch
„häretisch“ genannt wurde, wurde ab jetzt einfach „dumm“
genannt. Aus den sehr differenzierten Vorstellungen von Magie,
Alchemie und Okkultismus wurden Karikaturen gemacht, die sich leicht
anfechten ließen. Anders gesagt: die Inhalte und Arten des
esoterischen Denkens wurden nicht mehr wahrgenommen, sondern als
Aberglaube vom Tisch gewischt.
Dass allerdings Chemie nicht ohne
Alchemie und Astronomie nicht ohne Astrologie denkbar ist, wurde aus
dem europäischen Gedächtnis gestrichen. Hanegraaff betont die enge
Beziehung zwischen dem esoterischen und dem naturwissenschaftlichen
Denken, zeigt vor allem auch wie paradox die Verbindung ist. Der
Vergleich zwischen Abel und Kain (kommt von mir, nicht von
Hanegraaff) sagt etwas Wesentliches über die Beziehung aus. Was
augenscheinlich wie zwei getrennte Welten aussieht, beruht im Grund
genommen auf einem gemeinsamen Werdegang.
Über die Rosenkreuzer und die
Freimaurerei (die „Erzählung“ von geheimen okkulten
Organisationen) kommt Hanegraaff im neunzehnten Jahrhundert zu
Figuren wie Eliphas Lévi und Arthur Edward Waite, autodidaktische
und esoterische Forscher, die von der akademischen Welt vollkommen
negiert wurden. Hanegraaff weist fein darauf hin, dass alles was
irgendwie mit Magie zu tun hatte, von der akademischen Welt mit
„magischer“ Macht ins Belanglose und Lächerliche befördert
wurde.
Ich werde in den nächsten Wochen
weiter über Hanegraaff schreiben. Für heute noch das Folgende. Aus
den Ausführungen von Hanegraaff geht klar hervor, dass der Diskurs
zwischen Esoterik und Aufklärung nicht vorbei ist, ganz im
Gegenteil, wer den Werdegang der Moderne ernst nimmt, nicht nur
historisch, sondern auch in Bezug auf die europäischen Werte (wie
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit), die er erzeugt hat, kommt
nicht drum hin, sich die Frage zu stellen: Welche (ironisch genug:
verborgenen) Bausteine hat das esoterische Denken der heutigen Kultur
geliefert?
Der Ansatz von Hanegraaff kann dazu
beitragen, dass der offenkundig verdorbene Begriff des Esoterischen
und Okkulten aus einem muffigen Keller hoch geholt, ans Tageslicht
befördert und gereinigt wird. Man wird dann sehen können, dass das
esoterische Denken nicht einfach „dumm“ ist, sondern eine
feinsinnige Betrachtungsweise des Lebens darstellt, ohne welche es so
etwas wie Freiheit nicht gäbe.
14.10.2012
Eine alte Taube im Garten
Herbst, Samstagmorgen, der Wind spricht
leise in den Bäumen. Nebenan öffnet eine Nachbarin ein Fenster, das
Geräusch ist mir wohl vertraut, es ist jeden Morgen da, heute klingt
es allerdings bescheiden und still. Die Wäsche steht zum Trocknen
auf dem Innenhof, regungslos, gelassen, fast steif gefroren. Und ja,
die Mülltonnen, sie schweigen dazu.
Und sogar die Züge – sie fahren im
Minutentakt an meinem Garten vorbei – scheinen heute inne halten zu
wollen. Komplett still zu bleiben schaffen sie nicht, es sind halt
Züge, irgendetwas in der Luft dämmt jedoch die mechanischen Klänge,
umarmt das, was übergriffig sein könnte, leitet es um, in eine
Tiefe, in ein unterirdisches Ohr.
Etwas Mächtiges hört heute früh zu.
Nun ist es mit dem Hören so, dass immer eine Hoheit dahinter steckt,
„etwas“ hört zu, hören ohne eine Wesenheit gibt es nicht, Ohren
haben immer einen bestimmten Träger. Mir ist klar, dass die Hoheit,
die gerade zuhört, groß sein muss, vielleicht heißt sie Köln,
vielleicht Rheinland, vielleicht hat sie einen Namen, den ich nicht
kenne. Ich spüre jedoch, dass sie da ist, und auch die Vögel merken
ihre Präsenz, sie sitzen auf den Ästen und Dachrinnen und warten
ab.
Kleine Ohren können in großen Ohren
aufgehen, mit den Elstern und Raben und Amseln höre ich also zu,
versuche mit meinen Ohren das große Ohr zu finden, das gerade so
mächtig zuhört. Mein Hören fügt sich in „etwas“ ein, in ein
Hören, das sich zwar von mir nicht direkt identifizieren lässt,
jedoch alles andere als anonym ist. Ich merke allerdings, dass die
Hoheit sich nicht versehentlich verbirgt, ganz im Gegenteil, sie
möchte bei ihrem wahren Namen genannt werden.
Und dann geschieht etwas
Unwahrscheinliches. Neben mir, keine zwei Meter von mir entfernt,
landet ganz still, sanft und leise, fast geräuschlos, eine Taube.
Und sie schaut mich an. Sie ist groß und offenbar alt, sie wirkt
erschöpft, als könne sie auf der Stelle sterben... Ihr oranger
Schnabel leuchtet im Morgenlicht hell auf, wie ein Schmuckstück aus
einer alten arabischen Geschichte. Sie wackelt auf ihren Füßen,
schaut mich nochmals an und fängt dann holprig an, etwas Essbares im
Gras zu suchen.
Und sie sagt mir: Der Name der
bedachtsam zuhörenden Hoheit heißt Frieden. Und auf einmal ist mir
klar, welche dringend-stille Frage mich aus der leisen Sprache des
Windes in den Bäumen, aus der hängenden Wäsche auf dem Hof, aus
den gedämmten mechanischen Geräuschen der Züge versucht zu
erreichen. Die Frage lautet: Gibt es in Dir Platz für mich, für die
Hoheit namens Frieden?
Ich schreibe in Frieden.
Und als mein Schreiben friedvoll
vollendet ist, fängt der Wind an lauter zu sprechen, die Raben
nehmen ihren üblichen Diskurs wieder auf, und ja: Hunderte von
Gänsen ziehen laut kreischend hoch über mir her. Und die alte Taube
ist auf einmal verschwunden. Der Friede ist mächtig, man braucht ihm
nur zu lauschen und ihn in sich aufzunehmen.
30.09.2012
Die Genderdebatte. Über Frauen, Männer und Dämönchen
Die Genderdebatte ist ein schwieriges
Thema, das mich schon lange bewegt: die Frage nach der Rolle der
Geschlechter im sozialen Leben, oder zeitgemäßer gesagt: die
„Genderproblematik“. Es ist leicht zu verstehen, warum in der
heutigen Zeit gerade diese Thematik so brennt: Die weit
fortgeschrittene Individualisierung des Einzelnen hat logischerweise
dazu geführt, dass die Bedeutung kategorialer Einschätzungen des
menschlichen Verhaltens in Frage gestellt wird.
Die immer wieder auftauchenden Fragen
liegen deswegen auf der Hand: Verhalte ich mich so oder so, weil ich
„Jelle“ oder weil ich „ein Mann“ bin? Ist meine Kollegin
deshalb so einfühlsam, weil sie eine Frau ist? Ist mein Freund
manchmal so stur, weil er ein Mann ist? Die Antworten auf solche
Fragen werden allerdings, auch im akademischen Diskurs, erstaunlich
weit gefächert. Eine Sicht auf einen gemeinsamen Ansatz in Sachen
„Frauen und Männer“ ist nicht vorhanden.
In unserer Gesellschaft steht die
Genderfrage groß wie ein Elefant im Raum, sie wird allerdings oft
negiert. Dafür gibt es, so scheint es mir, zwei Gründe. Der erste
Grund hängt eben damit zusammen, dass eine gemeinsame Sichtweise
nicht vorhanden ist, dass heißt: jedes Gespräch über Frauen und
Männer, über das Weibliche und das Männliche, über Mädels und
Buben, über „nicht parken“ und „nicht denken“ können, über
Venus und Mars droht unangenehm auszuufern.
In solchen Gesprächen wird selten
etwas Neues, Originelles oder Offenes gesagt, Positionen sind bereits
bezogen oder aus Ignoranz gar nicht vorhanden. Dass dies so ist, hängt
damit zusammen, dass die Genderdebatte von intellektuellen
Entweder-oder-Koordinaten festgelegt worden ist, die gerade die
sensiblen Beziehungsfragen außer Acht lassen. Über Männer und
Frauen wird manchmal abstrakt theoretisiert, ohne dabei auf konkrete
Personen zu schauen.
Der zweite Grund des Negierens liegt
darin, dass eingefrorene Positionen Gespenster herbei rufen, die
ungreifbar aber kräftig im Sozialen herumirren. Es ist ein soziales
Gesetz: Was ich denke, jedoch nicht sage, hat in meiner Umgebung eine
verheerende Wirkung, vor allem wenn es um Gedanken geht, die eher
„Meinungen“ sind – um unverarbeitete Vorstellungen also, zu
denen ich innerlich keine Distanz bewahren kann. Gedanken, die ich
nicht wirklich denken kann, sondern gerade umgekehrt, die „mich“
denken und bestimmen, haben die faszinierende Eigenschaft, sich als
kleine „Dämönchen“ zu entpuppen, die unterschwellig die
Rahmenbedingungen einer Beziehung festlegen.
Die soziale Landschaft menschlicher
Beziehungen zwischen Männern und Frauen gehört zu den
gesellschaftlichen Feldern, auf denen Gespenster ihr Unwesen treiben,
Doppelgänger sich wohl fühlen und Zwerge und Trolle so richtig Spaß
haben. Manchmal kann man das unangenehme Gefühl haben, dass die
Genderdebatte darauf abzielt, Männer und Frauen definitiv lächerlich
(was sie aus Sicht der „Dämönchen“ natürlich auch sind) oder
eben zu Feinden zu machen.
Im Grunde genommen jedoch ist es
richtig, dass die Frage gestellt wird: Was macht das Weibliche (in
mir, in dir), was macht das Männliche (in mir, in dir) eigentlich
aus? Und auch: Inwieweit werden Menschen diesbezüglich in Rollen
gedrückt, die sie irgendwann einmal in ihrer Biographie als eine
Last erfahren? Und: Was macht diese Last eigentlich aus?
Die Frage des Wahren sollte besser
nicht von der Frage des Guten getrennt werden. Deswegen interessiert
mich weniger, welche Theorien man an dieser Stelle zitieren könnte,
um weitere Semi-Wahrheiten zu erzeugen. Wichtiger scheint es mir eher
zu sein, unbefangen darauf zu schauen, wie Menschen offenbar
untersuchend und vor allem auch gestaltend in ihrer jeweiligen
Lebenspraxis mit den brennenden Fragen umgehen. Mich würde
interessieren, was die Leserinnen ind Leser dazu zu sagen haben.
16.09.2012
Das Gespenst des Geldes braucht einen Eigennamen
Weitaus die meisten finanziellen Transaktionen, die weltweit jeden Tag stattfinden, beziehen sich nicht auf Produkte oder Leistungen, sondern auf Geld. Es geht dabei ums Zocken, Pokern, auch Spekulieren genannt, wobei positive oder negative Prognosen (Erwartungen, Hoffnungen) eine entscheidende Rolle spielen. Die Vermehrung des Geldes ist somit weitgehend im Geld selber begründet und kann nicht auf (Handlungen von) Menschen zurückgeführt werden.
Das Geld hat eine eigenständige Bedeutung gekriegt, ist
nicht mehr nur noch Vermittler, sondern selbst Akteur geworden, vergleichbar
mit dem Wetter. Was einmal eine Erscheinung kultureller Art war, eine
menschliche Schöpfung also, ist ein Gespenst geworden, das wie der Golem im
sozialen Leben herum geistert und eigenwillig handelt.
Das Geld-als-Gespenst ist der Elefant im Raum, der zurzeit
von allen Erdenbürgern gespürt, trotzdem aber gar nicht (oder kaum) benannt und
schon gar nicht erkannt wird. Es ist bemerkenswert, dass dieses Gespenst es
schafft in allen Debatten über die Finanzkrise fast unsichtbar zu bleiben –
seine Tarnkappe besteht aus den Ängsten der Bürger und funktioniert einwandfrei.
Und so ist es auch: Die Gründe von Ängsten, belässt man lieber im Dunkeln.
Das Geld ist dem Geld überlassen. Aus esoterischer Sicht
bedeutet dies, dass ein geistiges Vakuum entstanden ist – und weil es in der
geistigen Welt so etwas wie „leere Orte“ nicht geben kann, ziehen Wesenheiten in
dieses Vakuum ein und spekulieren mit den Ängsten der Menschen. Gespenster sind
manchmal mächtige Hoheiten, die allerdings wohl eine Schwäche haben: Sie sind
von den unbewussten Gefühlen der Menschen abhängig.
Das Gespenst hat ein Gesicht, das sich nicht fotografieren
lässt, eine Stimme, die sich nicht auf Band aufnehmen lässt. Sein Wesen ist
nicht lokalisierbar, befindet sich nicht in Manhattan, London, Frankfurt oder
Tokio, ist aber rund um die Uhr weltweit aktiv und wird höchstens von ein paar
vagen Begriffen angedeutet wie „Globalisierung“, „Kapitalismus“ oder „Gier“.
Institutionen, die mit dem Schicksal der unsichtbaren und ungreifbaren Hoheit
verbunden sind, werden „systemrelevant“ genannt.
Könnten wir dem Gespenst einen Eigennamen geben? Ein
Gesicht? Oder eben eine Biographie? Vielleicht könnte es zu einem Gespräch eingeladen
werden, es müsste doch etwas zu erzählen haben? Irgendwie könnte es doch sein,
dass in diesem Gespenst eine Not lebt, die es dazu getrieben hat, sich in ein
verlassenes Loch hinein zu begeben... Was „wirret“ dem Gespenst?
09.09.2012
Vier Monate alt. Über meine Tochter und ein Baumelding
Meine Tochter sitzt auf meinem Arm und
schaut mich an. In ihren Augen sehe ich erst ein Lächeln, ich könnte
nicht sagen, was es bedeutet – sie freut sich offenbar über
irgendetwas. Dann wird sie wieder ernst, sehr ernst, sie schaut auf
meinen Pullover, auf den Reißverschluss an meinem Hals. Dort hängt
ein kleines Ding, womit der Verschluss auf und zu gemacht werden
kann. Es ist aus grauem Metall, zwei Zentimeter lang, baumelt den
ganzen Tag auf meiner Brust nutzlos vor sich hin, unbeachtet...
Aber gerade jetzt wird das Ding
aufmerksam wahrgenommen von meiner kleinen Tochter, sie meint
irgendwie, es wäre das Zentrum der Welt, alles andere um sie herum
verschwindet, auch ich, der doch der stolze Träger des Dinges (und
meiner Tochter) ist. Ihre Aufmerksamkeit ist ungeteilt, richtet sich
auf das Eine, das im Moment zählt, das Ding (das den ganzen Tag
nutzlos hin und her baumelt).
Dann bewegt sie ihren rechten Arm,
versucht ihre rechte Hand in die Richtung des Dinges zu kriegen; sie
weiß, dass es möglich ist, das Ding zu berühren, eben zu
ergreifen, sie weiß jedoch nicht, wie das genau geht, sie versucht
es und versucht es... Ein leichtes Zittern zieht erst in ihren Arm,
dann in ihren ganzen Körper, eben ihr Köpfchen zittert mit. Ihr
Blick bleibt nichtsdestotrotz fest auf das Ding gerichtet, sie ist
bereits mit dem Ding verbunden und lässt nicht los.
Ich lasse sie, helfe nicht, was ich
leicht tun könnte – ich könnte sie zum Beispiel ein bisschen nach
vorne lehnen, sie dem Gegenstand näher bringen, den Abgrund zwischen
ihrem Händchen und dem grauen Baumelding kleiner machen. Ihr Arm ist
lang genug, sie könnte es schaffen. Und sie will es schaffen, ihre
Augen verraten einen Ernst und eine Entschiedenheit, die mit so etwas
Unwesentlichem wie Hilfe nicht rechnet.
Das Zittern, so scheint es mir,
entsteht dadurch, dass ein Wollen vorhanden ist, das seinen Weg bis
in die präzisen physischen Verhältnisse noch nicht gefunden hat.
Mit einem kräftigen Maß an Willenskraft sucht meine Tochter die
Berührung mit dem grauen Ding, die Kräfte fließen und schießen in
alle Richtungen: in ihren Kopf, ihre Arme, ihre Beine. Ihr ganzer
Körper ist dabei.
Ich schaue und staune. Und für ein
paar Minuten bin ich ganz bei meiner Tochter, genauso wie sie bei dem
Baumelding ist. Ich tue allerdings gerade kaum etwas, halte meinen
Körper eher regungslos, will nichts greifen, nichts bewegen, nur
meine Tochter auf meinen Armen tragen und zuschauen. Und doch gibt es
irgendwo in mir auch ein Zittern, ganz leicht, ganz still, vielleicht
vergleichbar mit dem Zucken der Haut eines gerade geborenen
Eselchens. Auch das Staunen hat etwas Zittriges...
Als sie das Ding endlich mit ihrem
Händchen ergriffen hat, scheint eigentlich gar nichts erreicht
worden zu sein. Meine Tochter ist eher verwirrt, hält das Ding
zwischen ihren Fingern und schaut um sich herum. Sie weiß nicht, wie
es wieder loszulassen wäre, weiß nicht einmal, dass es so etwas wie
loslassen überhaupt gibt. Sie fängt ein bisschen an zu quengeln,
macht „uh“ und „brr“ und „möh“, sitzt auf meinem Arm,
für ewig verbunden mit dem kleinen Baumelding.
Vorsichtig öffne ich ihr Fäustchen,
sie merkt es nicht einmal. Als aber das Ding wieder frei und nutzlos
auf meiner Brust hin und her baumelt, fängt meine Tochter von vorne
an. Sie wird ganz ernst, schaut auf den Gegenstand, so, als ob sie
ihn zum ersten Mal sieht, so, als ob er auf einmal ganz neu in der
Welt erschienen wäre, versucht ihn zu ergreifen... Und arbeitet sich
zitternd durch, bis sie aufs Neue ewig mit ihm verbunden zu sein
scheint...
30.08.2012
Meiske pijs...(Holländisches Lied für ganz ganz ganz kleine Mädchen)
Hei meiske pijs,
meiske meiske pijs,
hei, wijske meis,
wijske wijske meis,
meisje meisje wijs,
wijsje wijsje meis,
hei meiske pijs,
meiske meiske pijs!
31.07.2012
Über "Meta" hinaus. (1) Die unendliche Geschichte der Geschichte
Unsere Geschichte ist weder verbürgt noch bewiesen, trotzdem wichtig geworden, wie eine rührende Erzählung, die mehr aussagt als manche harten Tatsachen des Lebens. Sie ist unüberschaubar lang, ich könnte nicht sagen, wo ihr Anfang liegt, und auch ein klares Ende hat sie nicht, wird sie wahrscheinlich nie haben, weil das Erfinden von neuen Bedeutungen ihre Aufgabe ist.
Sie hört unterwegs manchmal auf, wird
unterbrochen und zögert in dunklen Ecken, tritt unerwartet wieder
ans Tageslicht, und entfaltet lebendige Bilder aus einer
Vergangenheit, die offenbar höchst aktuell sind. Mit diesen Bildern
sind wir manchmal alleine, wir schauen einander in die Augen und
staunen.
Sie besteht aus Fragmenten, losen
Absätzen, Skizzen und Entwürfen, ihre Eckdaten befinden sich in
großen zeitlichen Rahmen, ja, in Epochen die Fenster sind, die
nichts einschränken oder festlegen, sondern den Blick frei machen
für Weites und Breites, für Schmales und Enges. Richtige Worte für
die Fenster gibt es eigentlich nicht, in der geschriebenen Geschichte
heißen sie holprig das alte Persien & die Antike & das Reich
der Wikinger & die Renaissance & das Dritte Reich.
Wir sind von der langen Geschichte
umschlungen, wie die Fische vom Rheinwasser, werden von ihr getragen,
weiter geführt, doch manchmal wenden wir uns auf einmal um, gerade
wenn wir Ursprünge suchen, und schwimmen freudig gegen den Strom,
werden am Widerstand wach, fühlen uns wie ganz kleine Kinder, im
Leben strampelnd, sprachlos auch... Sich nur mitführen zu lassen,
bedeutet zu sterben (was eine schöne Angelegenheit ist); sich zu
wenden, bedeutet geboren zu werden (was vielleicht noch schöner
ist).
Unsere Geschichte ist eine Geschichte,
hat also eine bewegliche Architektur, kann sich von sich selber
höflich und liebevoll distanzieren, beleuchtet sich selber ständig
aus anderen Richtungen, richtet Epochen immer wieder neu ein,
schmeißt dabei nichts weg, verliert nichts, findet höchstens neue
Arten und Weisen des Präsentierens, des Darstellens, des Verstehens.
Zu unserer Geschichte haben wir eine Beziehung.
Die Geschichte selber hat eine
Geschichte, mit vielen Schichten, an dieser Stelle wird die
Geschichte verrückt, undurchdrinlich. Wie wäre eine Geschichte zu
benennen, die sich mit sich selber beschäftigt? Nein, eine
Meta-Geschichte wollen wir sie nicht nennen, mit Meta sind wir längst
fertig, Meta ist in der Geschichte-als-Geschichte bereits lange
angekommen, integriert, herzlich aufgenommen, Organ des Verstehen
geworden.
Es gibt nur eine Geschichte, sie
umfasst die Geschichte der Geschichte, trägt sie wie einen kostbaren
Schatz mit. Vielleicht ist sie die wahre Liebesgeschichte?
17.07.2012
Für Mundanomaniac
Du, unbekannter Kerl,
manisch Liebender, Du,
Buchhalter der Schwingung,
der Wendung – von weit,
von breit holst Du dir
die kleinsten Kreise:
scharf zusammen gezogene
Sprachlosigkeit, präzise
Markierungen in Raum
und Zeit. Wie weit, wie breit
ist deine Freiheit? Wo,
hinter den Worten, warten
die Götter auf dich? Wo
steht der große Tisch, vier-
dimensional, mit Flächen,
die recht krumm lachen?
Hört in den kleinen Kreisen
die wilde Bewegung auf?
Führen sie wie Löcher
ins Innere der Erde, dorthin,
wo Tubal Kain schmiedet,
das Eisen ins Feuer legt, es mit
Hammerschlägen zwingt
ein heiliges Schwert zu sein?
Du, dein Wollen ist sprachlos,
wie meines auch, wir wissen
nicht was wir tun, und wir tun,
was wir wissen wollen. Saturn
zieht uns an aus der Ferne,
der Mond flüstert hautnah,
und die Erde, sie wartet,
wartet dunkel und warm
auf dich, auf mich, auf uns,
auf das Werk der Entzündung.
manisch Liebender, Du,
Buchhalter der Schwingung,
der Wendung – von weit,
von breit holst Du dir
die kleinsten Kreise:
scharf zusammen gezogene
Sprachlosigkeit, präzise
Markierungen in Raum
und Zeit. Wie weit, wie breit
ist deine Freiheit? Wo,
hinter den Worten, warten
die Götter auf dich? Wo
steht der große Tisch, vier-
dimensional, mit Flächen,
die recht krumm lachen?
Hört in den kleinen Kreisen
die wilde Bewegung auf?
Führen sie wie Löcher
ins Innere der Erde, dorthin,
wo Tubal Kain schmiedet,
das Eisen ins Feuer legt, es mit
Hammerschlägen zwingt
ein heiliges Schwert zu sein?
Du, dein Wollen ist sprachlos,
wie meines auch, wir wissen
nicht was wir tun, und wir tun,
was wir wissen wollen. Saturn
zieht uns an aus der Ferne,
der Mond flüstert hautnah,
und die Erde, sie wartet,
wartet dunkel und warm
auf dich, auf mich, auf uns,
auf das Werk der Entzündung.
09.07.2012
Die Krise in Europa. Über Abgründe
Bereits in den fünfziger Jahren des
letzten Jahrhunderts fasste der holländische Anthroposoph Willem
Zeylmans van Emmichoven die schwierige Frage ins Auge: Wie ist mit
den Verschiedenheiten der europäischen Völker umzugehen? Er nahm
sich damals vor, eine Psychologie der Völker zu entwickeln und
wollte dafür in Den Haag ein Institut gründen. Damit scheiterte er
allerdings; er fand zu wenig Leute, die sein Anliegen verstanden.
Zeylmans van Emmichoven wollte in der Gesellschaft ein Gespür dafür wecken, dass die Verschiedenheiten zwischen den europäischen Völkern nicht nur durch die jeweiligen geschichtlichen Eigenheiten und Ereignisse verständlich sind, sondern vor allem auf jeweils berechtigten Perspektiven und Lebenshaltungen beruhen. Sein Freund Herbert Hahn beschrieb übrigens in seinem Buch „Vom Genius Europas“ – ein Klassiker der anthroposophischen Literatur – mit viel Humor die Verhaltensweisen von zwölf der europäischen Völker.
Nun, im Moment sieht es mit dem Verständnis für die Verschiedenheit in Europa leider nicht gut aus. Die Griechen nennt man „faul“, die Spanier „leichtsinnig“, die Italiener „unzuverlässig“, die Franzosen „stolz“, die Deutschen „engstirnig“, die Holländer „kaufmännisch“ - was „geizig“ bedeutet - die Ungarn „gedankenlos“ - womit „dumm“, gemeint ist - und die Belgier „verpennt“. Nur die Schweden, die Norweger und die Finnen scheinen offiziell keine Schatten zu haben, na ja, ein bisschen selbstherrlich und in sich selbst versunken sind sie wohl schon...
Man könnte an dieser Stelle natürlich sagen, dass sich die europäischen Schatten eklatant voneinander unterscheiden. Jedoch sind alle gegenseitigen Vorurteile auf eine bestimmte Frage zurückzuführen, die vor allem in Ländern wie Deutschland, Finnland und den Niederlanden gestellt wird, nämlich: Wie tüchtig wird in den jeweiligen Ländern gespart? Der Umgang mit Geld ist in der Debatte der springende Punkt geworden.
Die Bedeutung des Geldes zu relativieren, ist vergebens. In der politischen Debatte liegt ein Tabu auf der „Anthropologisierung“ der Frage des Geldes, es beruht auf der Tatsache, dass weltweit die Globalisierung als eine rein wirtschaftliche Angelegenheit quasi ohne menschliche Vorlieben, Gepflogenheiten oder Schwächen verstanden wird. Wirtschaft müsste-sollte-dürfte mit den Eigenheiten der Völker nichts zu tun haben, es gibt nur eine Art und Weise wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Die Volkswirtschaften, die relativ viel Geld verdienen, meinen in der Debatte automatisch Recht zu haben.
Mit der Biographie von Europa wird es natürlich irgendwie weiter gehen, allerdings erst dann, wenn die Abgründe in der aktuellen Krise erst recht sichtbar geworden sind. Die Bemühungen Merkels und Schäubles zielen darauf hin, die Fahrt in den Abgrund zu verhindern, was nicht gelingen wird. Uns stehen noch spannende Zeiten bevor, und die Entscheidungen werden nicht in Brüssel, Paris und Berlin, sondern in den Leben der einzelnen europäischen Bürger getroffen. Sogar die Hoffnung, dass die Krise den Einzelnen nicht erreichen wird, ist abgründig.
02.07.2012
Lebensbuchführung. Über die Schönheit von Texten
Texte sind sonderbare Erscheinungen. Es
ist noch nicht so lange her, dass sie erfunden wurden, die ältesten
Texte sind etwa sechstausend Jahre alt. Die Sumerer haben damals in
Uruk damit begonnen, die bereits mündlich existierenden
Bezeichnungen (die „Namen“) von Gegenständen und Wesen mit
grafischen Symbolen zu verbinden, und so wurde es möglich, eine Art
Buchführung des Lebens zu handhaben. Dieser Akt des Verbindens wurde
in den Tempeln gelehrt – was wir heute „schreiben“ nennen, war
damals eine heilige Angelegenheit.
Die Heiligkeit des Schreibens beruht auf der Tatsache, dass Texte gerade unheilig sind. In Texten wird die göttliche oder geistige oder seelische Ordnung der Dinge auf eine Ebene gebracht, wo sie als göttliche oder geistige oder seelische Wirkung nicht überleben kann. Texte verzerren per definitionem, um in einem Text etwas Spezifisches hervorzuheben, muss ganz viel missachtet, die Fülle des Lebens verstellt werden.
Große Dichter und Schriftsteller – die Meister der Texte – wussten das auch. Beispielsweise Rainer Maria Rilke, Virginia Woolf und Dylan Thomas waren sich bewusst, dass ihre Texte prinzipiell daneben waren. Mit dem Akt des Schreibens geht – auch wenn man es nicht fühlen will – eine Scham einher. Die Schulung in den alten Tempeln war deswegen eine moralische, und das Ziel: lernen sich der Scham zu stellen. In modernen Zeiten haben sensitive Intellektualität (Rilke, Woolf) oder Alkohol (Thomas) oder einfach Ignoranz diese Aufgabe übernommen.
Texte sind paradoxe Erscheinungen. Der amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Saul Bellow erzählte mir vor Jahren, dass er nach der Veröffentlichung eines neuen Romans immer in eine Krise gelangte. Das frisch gedruckte Buch spiegelte ihm gerade das, was er nicht geschafft hatte. Was literarisch geleistet wird, so meinte er, tut im Nachhinein immer weh, und gerade darin liegt die Wirkung der Schönheit.
Um etwas zu sagen, muss man schweigen, was nicht heißt, dass man schweigen sollte – ohne Aussagen gibt es kein Schweigen. Texte die alles sagen wollen, sind keine Texte, sie sagen nichts. Worte bedeuten immer mehr, man könnte auch sagen: immer weniger, als in einer konkreten Aussage bemerkbar ist. Wenn ich „ja“ sage, evoziere ich gewollt oder ungewollt die Möglichkeit „nein“ zu sagen.
Die Heiligkeit des Schreibens beruht auf der Tatsache, dass Texte gerade unheilig sind. In Texten wird die göttliche oder geistige oder seelische Ordnung der Dinge auf eine Ebene gebracht, wo sie als göttliche oder geistige oder seelische Wirkung nicht überleben kann. Texte verzerren per definitionem, um in einem Text etwas Spezifisches hervorzuheben, muss ganz viel missachtet, die Fülle des Lebens verstellt werden.
Große Dichter und Schriftsteller – die Meister der Texte – wussten das auch. Beispielsweise Rainer Maria Rilke, Virginia Woolf und Dylan Thomas waren sich bewusst, dass ihre Texte prinzipiell daneben waren. Mit dem Akt des Schreibens geht – auch wenn man es nicht fühlen will – eine Scham einher. Die Schulung in den alten Tempeln war deswegen eine moralische, und das Ziel: lernen sich der Scham zu stellen. In modernen Zeiten haben sensitive Intellektualität (Rilke, Woolf) oder Alkohol (Thomas) oder einfach Ignoranz diese Aufgabe übernommen.
Texte sind paradoxe Erscheinungen. Der amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Saul Bellow erzählte mir vor Jahren, dass er nach der Veröffentlichung eines neuen Romans immer in eine Krise gelangte. Das frisch gedruckte Buch spiegelte ihm gerade das, was er nicht geschafft hatte. Was literarisch geleistet wird, so meinte er, tut im Nachhinein immer weh, und gerade darin liegt die Wirkung der Schönheit.
Um etwas zu sagen, muss man schweigen, was nicht heißt, dass man schweigen sollte – ohne Aussagen gibt es kein Schweigen. Texte die alles sagen wollen, sind keine Texte, sie sagen nichts. Worte bedeuten immer mehr, man könnte auch sagen: immer weniger, als in einer konkreten Aussage bemerkbar ist. Wenn ich „ja“ sage, evoziere ich gewollt oder ungewollt die Möglichkeit „nein“ zu sagen.
24.06.2012
Die Selbstregulierung unserer Tochter. Über das Schreien der Kleinen
Sie hat geschrien und geschrien. Stundenlang. Ihr Schreien hat nichts daran geändert, dass sie süß ist. Auch wenn sie zornig war – ihr Köpfchen rot, ihr kleiner Mund Ausdruck des äußersten Wollens – blieb sie das schönste & liebste & teuerste Mädchen auf der Welt. Wir wussten nur nicht, was los war und waren deswegen verzweifelt und ratlos. In der weiten Welt gab es nur noch eine dringende Frage, die uns wirklich interessierte, nämlich: Wie kann sie Ruhe finden?
Wenn Säuglinge schreien, schreit alles. Sie schreien mit Händen und Füßen, mit geballten Fäustchen, eben die Haare auf dem Köpfchen scheinen voll mitzumachen, sie bewegen sich zwar nicht, drücken jedoch schweigend einen Weltzorn aus und sehen wie die Friseur einer gewaltigen Kaiserin aus. Die ganz Kleinen sind reiner Wille – vor allem durch ihr Schreien wird das unverkennbar ersichtlich.
Und in uns schreit alles mit. Ich erzähle mal von mir. Wenn sie schreiend in meinen Armen liegt, kann ich mich von ihrer Verzweiflung nicht abgrenzen, die zwingenden Töne aus ihrem süßen Mund erreichen sofort meine Knochen, gehen bis in den dunkelsten Ecken meiner Seele, wühlen mich auf wie ein absolutes Gedicht von Dylan Thomas („Do not go gentle into that good night/ rage, rage against the dying of the light“).
Vielleicht – ja: vielleicht! – gibt es eine Stelle, die von diesem Schreien frei bleibt, die sich irgendwie souverän handhaben kann, die sozusagen aufmerksam dabei bleibt, ohne sich in den Schrecken zu verlieren. Ich meine sie manchmal in dem Blick meiner kleinen Tochter gefunden zu haben, in ihren Augen also, die beides machen: Sie schreien mit (und wie!) und sie schauen gleichzeitig auf das Geschehen wie aus einer höheren Warte. Etwas in dem Blick wird vom Schreien zwar berührt, jedoch nicht verführt.
Und seltsam, nun ja vielleicht – vielleicht! – spinne ich nur. Ich habe allerdings den Eindruck, dass der ferne & nahe Beobachter in meiner Tochter nicht nur auf das Schreien schaut, sondern auch auf mich, er sucht mich auf, hofft unbedingt darauf, dass Kontakt entsteht, dass wir sozusagen auf einer hohen & stillen & heiligen Ebene „zusammenarbeiten“, vielleicht besser gesagt: Uns einfach zusammen tun. (Johann Sebastian Bach: „Wir setzten uns mit Tränen nieder.“) Und wenn ich diesen souveränen Blick in mir zulasse, passiert ein Wunder: Ich finde die Ruhe, die meine Tochter beruhigt...
Die erste Diagnose lautete: Dreimonatskoliken. Damit sind Blähungen gemeint, die die ersten Monate eines neuen Lebens so richtig versauen können. Mittlerweile hat diese Diagnose sich jedoch bei unserer Tochter als falsch erwiesen, eher ist wahrscheinlich, dass umgekehrt die Blähungen durch das Schreien entstehen. Ein relativ neuer Begriff im medizinischen Denken trifft vielleicht – ja, vielleicht, was wissen wir eigentlich sicher? – besser zu, er nennt sich „Selbstregulation“.
Und damit ist gemeint, dass unsere Tochter damit beschäftigt ist, ihren kleinen & schönen & zerbrechlichen Körper (oder müsste ich gerade sagen: ihren weisen & starken Körper?) fürs irdische Leben zurechtzurücken. Sie reguliert ihren Körper selbst, ist dabei, das Eine und das Andere noch einzurichten, was offenbar auch Seiten hat, die weniger angenehm sind. Und das Schreien – so könnte es sein – hängt einerseits damit zusammen, dass die Arbeit unangenehm ist, ruft andererseits aber die „höheren“ Kräfte herbei, die dafür gebraucht werden.
Wir beide, Vater und Mutter, sind durch das Schreien so richtig an unsere Grenzen geführt worden. Es gab Momente, da lagen die Nerven blank. Es sieht im Moment so aus, dass mit Hilfe von Osteopathen, Kinderärzten und Hebammen, Medikamenten und Ritualen, Spaziergängen im „Slendang“ und interessanten „Tricks“ (darüber vielleicht ein nächstes Mal mehr) die Lage sich ein bisschen beruhigt hat. Das Schreien ist nicht ganz vorbei (muss auch nicht), die Verzweiflung ist jedoch mehr als halbwegs verschwunden.
Auf der Erde anzukommen, ist ein großes Ding. Unsere Tochter Ilana hat es mal wieder gezeigt: Auf der Erde voll präsent und geistig tätig zu sein, ist keine Selbstverständlichkeit. Ganz viel Selbstregulation ist von Nöten, und ganz viel Liebe, die offenbar in unseren Knochen schlummert und geweckt werden muss. Und ganz sicher ist wahr: Ohne ein praktisches Wissen vom Leben läuft überhaupt nichts.
Wenn Säuglinge schreien, schreit alles. Sie schreien mit Händen und Füßen, mit geballten Fäustchen, eben die Haare auf dem Köpfchen scheinen voll mitzumachen, sie bewegen sich zwar nicht, drücken jedoch schweigend einen Weltzorn aus und sehen wie die Friseur einer gewaltigen Kaiserin aus. Die ganz Kleinen sind reiner Wille – vor allem durch ihr Schreien wird das unverkennbar ersichtlich.
Und in uns schreit alles mit. Ich erzähle mal von mir. Wenn sie schreiend in meinen Armen liegt, kann ich mich von ihrer Verzweiflung nicht abgrenzen, die zwingenden Töne aus ihrem süßen Mund erreichen sofort meine Knochen, gehen bis in den dunkelsten Ecken meiner Seele, wühlen mich auf wie ein absolutes Gedicht von Dylan Thomas („Do not go gentle into that good night/ rage, rage against the dying of the light“).
Vielleicht – ja: vielleicht! – gibt es eine Stelle, die von diesem Schreien frei bleibt, die sich irgendwie souverän handhaben kann, die sozusagen aufmerksam dabei bleibt, ohne sich in den Schrecken zu verlieren. Ich meine sie manchmal in dem Blick meiner kleinen Tochter gefunden zu haben, in ihren Augen also, die beides machen: Sie schreien mit (und wie!) und sie schauen gleichzeitig auf das Geschehen wie aus einer höheren Warte. Etwas in dem Blick wird vom Schreien zwar berührt, jedoch nicht verführt.
Und seltsam, nun ja vielleicht – vielleicht! – spinne ich nur. Ich habe allerdings den Eindruck, dass der ferne & nahe Beobachter in meiner Tochter nicht nur auf das Schreien schaut, sondern auch auf mich, er sucht mich auf, hofft unbedingt darauf, dass Kontakt entsteht, dass wir sozusagen auf einer hohen & stillen & heiligen Ebene „zusammenarbeiten“, vielleicht besser gesagt: Uns einfach zusammen tun. (Johann Sebastian Bach: „Wir setzten uns mit Tränen nieder.“) Und wenn ich diesen souveränen Blick in mir zulasse, passiert ein Wunder: Ich finde die Ruhe, die meine Tochter beruhigt...
Die erste Diagnose lautete: Dreimonatskoliken. Damit sind Blähungen gemeint, die die ersten Monate eines neuen Lebens so richtig versauen können. Mittlerweile hat diese Diagnose sich jedoch bei unserer Tochter als falsch erwiesen, eher ist wahrscheinlich, dass umgekehrt die Blähungen durch das Schreien entstehen. Ein relativ neuer Begriff im medizinischen Denken trifft vielleicht – ja, vielleicht, was wissen wir eigentlich sicher? – besser zu, er nennt sich „Selbstregulation“.
Und damit ist gemeint, dass unsere Tochter damit beschäftigt ist, ihren kleinen & schönen & zerbrechlichen Körper (oder müsste ich gerade sagen: ihren weisen & starken Körper?) fürs irdische Leben zurechtzurücken. Sie reguliert ihren Körper selbst, ist dabei, das Eine und das Andere noch einzurichten, was offenbar auch Seiten hat, die weniger angenehm sind. Und das Schreien – so könnte es sein – hängt einerseits damit zusammen, dass die Arbeit unangenehm ist, ruft andererseits aber die „höheren“ Kräfte herbei, die dafür gebraucht werden.
Wir beide, Vater und Mutter, sind durch das Schreien so richtig an unsere Grenzen geführt worden. Es gab Momente, da lagen die Nerven blank. Es sieht im Moment so aus, dass mit Hilfe von Osteopathen, Kinderärzten und Hebammen, Medikamenten und Ritualen, Spaziergängen im „Slendang“ und interessanten „Tricks“ (darüber vielleicht ein nächstes Mal mehr) die Lage sich ein bisschen beruhigt hat. Das Schreien ist nicht ganz vorbei (muss auch nicht), die Verzweiflung ist jedoch mehr als halbwegs verschwunden.
Auf der Erde anzukommen, ist ein großes Ding. Unsere Tochter Ilana hat es mal wieder gezeigt: Auf der Erde voll präsent und geistig tätig zu sein, ist keine Selbstverständlichkeit. Ganz viel Selbstregulation ist von Nöten, und ganz viel Liebe, die offenbar in unseren Knochen schlummert und geweckt werden muss. Und ganz sicher ist wahr: Ohne ein praktisches Wissen vom Leben läuft überhaupt nichts.
10.06.2012
Samuel und Sammy. Über Geld und Angst vor der Macht
Samuel: „Wie kann es wahr sein, dass
wir Menschen jeden Tag von Geld reden, manchmal so einfach nebenbei,
so wie: 'Wie viel Geld brauchst du heute?' oder 'Wie viel Geld kostet
eine Bahnfahrt von Köln nach Trier?' oder 'Mir ist das Geld
ausgegangen' – ohne offenbar zu begreifen, was Geld eigentlich
ist?“
Sammy: „Du brauchst nur der Frage nachzugehen, warum Vögel ohne Geld auskommen.“
Samuel: „Bitte...“
Sammy: „Bitte was?“
Samuel: „Vögel können nicht denken.“
Sammy: „Du hast gerade gemeint, dass die Menschen nicht über Geld denken können. Und so ist es auch: Geld beruht auf einer Idee, die die Menschen überfordert, wie manche andere große Ideen auch...“
Samuel: „Geld ist eine Idee?“
Sammy: „Würde ich sagen, ja...“
Samuel: „Und was beinhaltet die Idee?“
Sammy: „Ideen beinhalten nichts. Sie sind keine Flaschen. Ideen sind Türen, sie öffnen Räume, wecken Perspektiven, vergegenwärtigen eine geistige Geographie, sind Bestimmungen, die längst noch nicht erreicht worden sind.“
Samuel: „Ein Tauschmittel ist Geld nicht, das ist mir klar.“
Sammy: „Geld war nie ein praktisches Instrument. Rein praktische Instrumente existieren nicht, auch ein Hammer ist weit mehr als ein Hammer. Von Anfang an steckte der Teufel in diesem Zeug, nicht nur im Geld. Aber du weißt, auch der Teufel ist weit mehr als der Teufel“.
Samuel: „...“
Sammy: „Von rechts nach links gesehen, sieht Geld wie ein Glaube aus, an den Macht gebunden ist. Die gigantischen Geldblasen repräsentieren immaterielle Hoffnungen, von denen die Menschen sich längst verabschiedet haben, weil sie ihnen nichts zutrauen, sie nicht einmal mehr kennen. Auf Bankkonten werden Glaube und Hoffnung eingefroren. Das Problem liegt nicht im Geld, sondern in der unsichtbaren Macht.“
Sammy: „Genau. Mit Geld sollte man etwas tun, immer etwas tun... Sparen bedeutet gerade: jetzt nichts tun. Die Handlung wird in der Zeit nach vorne verschoben, und damit auch die Hoffnung. Es gibt in jeder Gegenwart immer etwas zu tun. Menschen sparen nicht, weil sie Sicherheit brauchen, sondern weil sie Angst vor der Macht-im-Jetzt haben. Vögel haben diese Angst nicht, deswegen brauchen sie kein Geld.“
Sammy: „Du brauchst nur der Frage nachzugehen, warum Vögel ohne Geld auskommen.“
Samuel: „Bitte...“
Sammy: „Bitte was?“
Samuel: „Vögel können nicht denken.“
Sammy: „Du hast gerade gemeint, dass die Menschen nicht über Geld denken können. Und so ist es auch: Geld beruht auf einer Idee, die die Menschen überfordert, wie manche andere große Ideen auch...“
Samuel: „Geld ist eine Idee?“
Sammy: „Würde ich sagen, ja...“
Samuel: „Und was beinhaltet die Idee?“
Sammy: „Ideen beinhalten nichts. Sie sind keine Flaschen. Ideen sind Türen, sie öffnen Räume, wecken Perspektiven, vergegenwärtigen eine geistige Geographie, sind Bestimmungen, die längst noch nicht erreicht worden sind.“
Samuel: „Ein Tauschmittel ist Geld nicht, das ist mir klar.“
Sammy: „Geld war nie ein praktisches Instrument. Rein praktische Instrumente existieren nicht, auch ein Hammer ist weit mehr als ein Hammer. Von Anfang an steckte der Teufel in diesem Zeug, nicht nur im Geld. Aber du weißt, auch der Teufel ist weit mehr als der Teufel“.
Samuel: „...“
Sammy: „Von rechts nach links gesehen, sieht Geld wie ein Glaube aus, an den Macht gebunden ist. Die gigantischen Geldblasen repräsentieren immaterielle Hoffnungen, von denen die Menschen sich längst verabschiedet haben, weil sie ihnen nichts zutrauen, sie nicht einmal mehr kennen. Auf Bankkonten werden Glaube und Hoffnung eingefroren. Das Problem liegt nicht im Geld, sondern in der unsichtbaren Macht.“
Samuel: „Du meinst, die Menschen
verzichten auf Macht?“
Sammy: „Genau. Mit Geld sollte man etwas tun, immer etwas tun... Sparen bedeutet gerade: jetzt nichts tun. Die Handlung wird in der Zeit nach vorne verschoben, und damit auch die Hoffnung. Es gibt in jeder Gegenwart immer etwas zu tun. Menschen sparen nicht, weil sie Sicherheit brauchen, sondern weil sie Angst vor der Macht-im-Jetzt haben. Vögel haben diese Angst nicht, deswegen brauchen sie kein Geld.“
04.06.2012
Nach Deiner Geburt
Ich bin verstummt.
Mir sagt die Weltzu viel. Ich heiße
willkommen ohne
Abwehr, ohne Text.
Hände & Ohren &
Lippen sind wach,
ich sage euch: sind
Haut des Lebens. Sie
blühen ohne Schmerz,
still und gewaltig.
Ich bin verstummt.
Aus einer Weite
kommt Dein Blick. Ich
kenne sie, die Breite,
die Du mir bringst,
sie dehnt sich aus, zieht
sich zusammen, heißt
Hierarchie & Ewigkeit &
Liebe – ich wüsste gerne,
wie diese weiße Macht,
politisch werden könnte,
Kraft in klaren Köpfen.
Aber die Weite ist weit,
die Breite ist breit,
die Tiefe ohne Sprache.
Die Köpfe sind zu laut.
Du schreist und schreist.
Du brichst aus, Du schreist
Dein Leben in meine Ohren,
es hält dort zusammen,
wie eine Blume, die gerade
noch keine Farbe hat,
weiß ist wie Unschuld,
deswegen politisch, jedoch
unerhört, jedoch nicht gehört,
jedoch in seiner Pracht
ungestört. Dein Saugen
ist weit und breit und tief,
Übergabe & Rückgabe
in Einem. Ich wüsste gerne,
wie Deine Zuwendung
die Dummheiten auflösen,
das Stumme & das Stille &
das Nichts wecken könnten.
In Deinem Blick schaut Gott
27.05.2012
Mal wieder die Vögel zu Pfingsten
Mal wieder
die Vögel:
sie sind überall. Die Tauben,
versunken in uralte
Wiederholungen, sie sagen
immer das gleiche aus – ich
habe es vergessen, ich suche
den Klang in meinem Körper,
ich finde ihn nicht... Die Amseln
gestern noch und heute Morgen:
sie waren da, als ich ein Kind war,
sie singen noch immer
von Abschied und Anfang, sie
hüpfen über die grüne Wiese
an mir vorbei, sie wissen:
mal wieder die Vögel... Die Elstern,
noch immer zwei, arbeiten oben
auf den scharfen Rändern der Dächer,
brutal öffnen sie da das Blau
des Himmels, überlassen mir unten
die kleinen Worte... Das Rotkehlchen
ist alleine, wie immer alleine, es hat
kleine Räume um sich versammelt,
etwa tausend, ist hier kurz zu Hause,
dort kurz zu Hause, jetzt im Strauch
direkt neben mir. Es guckt mich an,
nimmt mich auf, nimmt mich mit
zum nächsten Baum... Von weit
kommt der Eichelhäher, aus Belgien
meine ich, er landet ausgeglichen
in dem Holunderstrauch, sitzt und ruht,
bringt Botschaften aus der Ferne,
die ich gerade noch verstehe... Mal
wieder die Vögel zu Pfingsten,
ohne Worte, wie immer. Sie weben
Verlorenes um mich herum.
sie sind überall. Die Tauben,
versunken in uralte
Wiederholungen, sie sagen
immer das gleiche aus – ich
habe es vergessen, ich suche
den Klang in meinem Körper,
ich finde ihn nicht... Die Amseln
gestern noch und heute Morgen:
sie waren da, als ich ein Kind war,
sie singen noch immer
von Abschied und Anfang, sie
hüpfen über die grüne Wiese
an mir vorbei, sie wissen:
mal wieder die Vögel... Die Elstern,
noch immer zwei, arbeiten oben
auf den scharfen Rändern der Dächer,
brutal öffnen sie da das Blau
des Himmels, überlassen mir unten
die kleinen Worte... Das Rotkehlchen
ist alleine, wie immer alleine, es hat
kleine Räume um sich versammelt,
etwa tausend, ist hier kurz zu Hause,
dort kurz zu Hause, jetzt im Strauch
direkt neben mir. Es guckt mich an,
nimmt mich auf, nimmt mich mit
zum nächsten Baum... Von weit
kommt der Eichelhäher, aus Belgien
meine ich, er landet ausgeglichen
in dem Holunderstrauch, sitzt und ruht,
bringt Botschaften aus der Ferne,
die ich gerade noch verstehe... Mal
wieder die Vögel zu Pfingsten,
ohne Worte, wie immer. Sie weben
Verlorenes um mich herum.
19.05.2012
Gemeinschaft feiern. Über eine Party in einem Kinderhaus
Es ist Donnerstag, früh, Himmelfahrt.
Ich sitze auf der Terrasse unserer Wohnung in Köln, die Sonne
scheint, die Pfingstrosen im Garten neigen sich dunkelrot und voll
zur Erde, die Vögel „twittern“, die vorbeifahrenden Züge
geleiten meine Gedanken nach Bonn, Gerolstein und Frankfurt... Die
Welt ist heute weit und offen, jedoch auch klein und vertraut.
In der Welt bin ich bei mir. Was mich heute vor allem bewegt, sind zwei Gegebenheiten. Erstens ist da die überwältigende Tatsache, dass ich vor einer Woche Vater geworden bin. Unsere Tochter Ilana ist noch winzig klein, sie bestimmt jedoch rund um die Uhr das kleine-große Leben zwischen den Pfingstrosen, den Vögeln und den Zügen. Es scheint mir so zu sein, als ob sie bereits eine Ewigkeit bei uns ist. Gab es eigentlich eine Zeit, in der sie noch nicht da war?
Und dann ist da zweitens die Tatsache, dass nächsten Samstag das Kinderhaus in Aachen so richtig feiern wird. Ich kann leider nicht dabei sein, weil ich meine Lebensgefährtin Vanda nicht mit unserer Tochter und den vielen Besuchern (Samstag kommt eine Truppe aus Holland) alleine lassen will, weil ich die Begrüßungen nicht verpassen möchte. Eigentlich würde man am Himmelfahrtstag meinen, man könnte überall gleichzeitig sein, leider erlaubt mir mein Körper dies jedoch nicht.
Dass am Samstag im Kinderhaus in der Mühle in Aachen so richtig gefeiert wird, hat gute Gründe. Wir haben über Jahre und Jahre – ja, gab es eigentlich eine Zeit ohne diese Bemühungen? – an einer Verwandlung gearbeitet, die äußerlich gesprochen vielleicht eher trivial aussieht, innerlich jedoch eine teure und stolze Leistung bedeutet. Es gab einmal eine Zeit, in der das Kinderhaus – mit etwa zwölf Kindern und Jugendlichen – von zwei Personen, Ruthild und Martin Soltau, die sich mit ihren eigenen vier Kindern für die Zukunft aller Beteiligten verantwortlich gemacht haben, getragen wurde. Die beiden waren über eine lange Zeit die zwei tragenden Säulen der Gemeinschaft.
Und am Samstag wird der Umstand gefeiert, dass diese Verantwortung nun von einem Team übernommen worden ist. Das soziale Gebäude des Kinderhauses wird jetzt von einem Kreis von Säulen getragen, einer Art Stonehenge, das in einer vielschichtigen menschlichen Zusammenstellung nun ihre Orientierung und Richtung finden will. Diese Verwandlung ist möglich, weil sie nicht nur gewollt, sondern auch bewusst Schritt für Schritt vollzogen wurde. Alle Beteiligten haben an diesem Vorgang mitgearbeitet - und vor allem auch an sich selber gearbeitet.
Die innerliche Verantwortung für Kinder und Jugendliche zu ergreifen, ist ein großes Ding. Als Begleiter dieses Prozesses habe ich über die Jahre hautnah erleben dürfen, wie sehr die Schicksale der Einzelnen – der Kinder und Erwachsenen – miteinander verflochten sind, wie sehr die Beziehungen immer wieder große und wesentliche Fragen über das Leben erwecken, über „mein“ Leben, über die dringenden Themen in der Gesellschaft. (Wer die Postmoderne in all seinen Aspekten kennen lernen will, möge sich sofort als Mitarbeiter in einem Kinderhaus bewerben...)
Ich möchte vor allen Martin und Ruthild, Ralf, Andrea und Willy an dieser Stelle meine Achtung zollen, nicht weil sie kompetent und fleißig sind (sind sie jedoch!), nicht weil sie zuverlässig und treu sind (sind sie auch!), sondern weil sie sich uneingeschränkt auf das Wesen der Verwandlung eingelassen haben. Sie haben sich selber immer wieder in Frage gestellt, haben ihre eigene Haltung kritisch angeschaut, sich von Freude und Schmerzen klug und mutig leiten lassen.
Offiziell hat Ralf Gundlach die Leitung des Kinderhauses in seine Hände genommen, und wird dabei von Andrea, Ruthild und Martin, sowie dem ganzen Team unterstützt. Ralf ist ein Mensch der Weite, der Nähe, des Vertrauens, des Dialogischen. Er hört auf die Bedürfnisse der Kinder und der Mitarbeiter, versucht Fähigkeiten zu erwecken, hält inne wenn nötig... Und vor allem: Wenn er in die Küche tritt und „Hallo“ sagt, ist er präsent.
Die verborgene Regie der Verwandlung – haben wir sie bemerkt? Ja, wir haben sie wahrgenommen! – lag in Wahrheit bei den Kindern und Jugendlichen. Wir wissen, dass für sie das Kinderhaus eine notwendige Alternative ist – wie gerne würden sie ganz „normal“ in einer Familie aufwachsen, mit Müttern und Vätern die im Stande sind, sie zu betreuen, zu versorgen, zu begleiten! Wir wissen allerdings auch, dass sie ihr Schicksal akzeptieren, annehmen, ja uneingeschränkt leben... Liegt nicht die Größe der Kinder gerade darin, dass sie das Leben nehmen wie es ist, jeden Tag wieder?
Heute ist Himmelfahrt, bald wird es Pfingsten werden. Aus den ehrlichen Bemühungen der abgesonderten Einzelnen entsteht durch das Pfingstfest eine Weite und Nähe der Gemeinschaft, das freudige und vielleicht auch ein bisschen wirre Teilen miteinander, wonach wir uns alle sehnen. Am Samstag feiern die Kinder und Erwachsenen des Kinderhauses „Gemeinschaft“, ich werde leider nicht dabei sein. Aber bereits heute spüre ich, wie sehr ich mich von der Wahrhaftigkeit des Bemühens getragen fühle.
In der Welt bin ich bei mir. Was mich heute vor allem bewegt, sind zwei Gegebenheiten. Erstens ist da die überwältigende Tatsache, dass ich vor einer Woche Vater geworden bin. Unsere Tochter Ilana ist noch winzig klein, sie bestimmt jedoch rund um die Uhr das kleine-große Leben zwischen den Pfingstrosen, den Vögeln und den Zügen. Es scheint mir so zu sein, als ob sie bereits eine Ewigkeit bei uns ist. Gab es eigentlich eine Zeit, in der sie noch nicht da war?
Und dann ist da zweitens die Tatsache, dass nächsten Samstag das Kinderhaus in Aachen so richtig feiern wird. Ich kann leider nicht dabei sein, weil ich meine Lebensgefährtin Vanda nicht mit unserer Tochter und den vielen Besuchern (Samstag kommt eine Truppe aus Holland) alleine lassen will, weil ich die Begrüßungen nicht verpassen möchte. Eigentlich würde man am Himmelfahrtstag meinen, man könnte überall gleichzeitig sein, leider erlaubt mir mein Körper dies jedoch nicht.
Dass am Samstag im Kinderhaus in der Mühle in Aachen so richtig gefeiert wird, hat gute Gründe. Wir haben über Jahre und Jahre – ja, gab es eigentlich eine Zeit ohne diese Bemühungen? – an einer Verwandlung gearbeitet, die äußerlich gesprochen vielleicht eher trivial aussieht, innerlich jedoch eine teure und stolze Leistung bedeutet. Es gab einmal eine Zeit, in der das Kinderhaus – mit etwa zwölf Kindern und Jugendlichen – von zwei Personen, Ruthild und Martin Soltau, die sich mit ihren eigenen vier Kindern für die Zukunft aller Beteiligten verantwortlich gemacht haben, getragen wurde. Die beiden waren über eine lange Zeit die zwei tragenden Säulen der Gemeinschaft.
Und am Samstag wird der Umstand gefeiert, dass diese Verantwortung nun von einem Team übernommen worden ist. Das soziale Gebäude des Kinderhauses wird jetzt von einem Kreis von Säulen getragen, einer Art Stonehenge, das in einer vielschichtigen menschlichen Zusammenstellung nun ihre Orientierung und Richtung finden will. Diese Verwandlung ist möglich, weil sie nicht nur gewollt, sondern auch bewusst Schritt für Schritt vollzogen wurde. Alle Beteiligten haben an diesem Vorgang mitgearbeitet - und vor allem auch an sich selber gearbeitet.
Die innerliche Verantwortung für Kinder und Jugendliche zu ergreifen, ist ein großes Ding. Als Begleiter dieses Prozesses habe ich über die Jahre hautnah erleben dürfen, wie sehr die Schicksale der Einzelnen – der Kinder und Erwachsenen – miteinander verflochten sind, wie sehr die Beziehungen immer wieder große und wesentliche Fragen über das Leben erwecken, über „mein“ Leben, über die dringenden Themen in der Gesellschaft. (Wer die Postmoderne in all seinen Aspekten kennen lernen will, möge sich sofort als Mitarbeiter in einem Kinderhaus bewerben...)
Ich möchte vor allen Martin und Ruthild, Ralf, Andrea und Willy an dieser Stelle meine Achtung zollen, nicht weil sie kompetent und fleißig sind (sind sie jedoch!), nicht weil sie zuverlässig und treu sind (sind sie auch!), sondern weil sie sich uneingeschränkt auf das Wesen der Verwandlung eingelassen haben. Sie haben sich selber immer wieder in Frage gestellt, haben ihre eigene Haltung kritisch angeschaut, sich von Freude und Schmerzen klug und mutig leiten lassen.
Offiziell hat Ralf Gundlach die Leitung des Kinderhauses in seine Hände genommen, und wird dabei von Andrea, Ruthild und Martin, sowie dem ganzen Team unterstützt. Ralf ist ein Mensch der Weite, der Nähe, des Vertrauens, des Dialogischen. Er hört auf die Bedürfnisse der Kinder und der Mitarbeiter, versucht Fähigkeiten zu erwecken, hält inne wenn nötig... Und vor allem: Wenn er in die Küche tritt und „Hallo“ sagt, ist er präsent.
Die verborgene Regie der Verwandlung – haben wir sie bemerkt? Ja, wir haben sie wahrgenommen! – lag in Wahrheit bei den Kindern und Jugendlichen. Wir wissen, dass für sie das Kinderhaus eine notwendige Alternative ist – wie gerne würden sie ganz „normal“ in einer Familie aufwachsen, mit Müttern und Vätern die im Stande sind, sie zu betreuen, zu versorgen, zu begleiten! Wir wissen allerdings auch, dass sie ihr Schicksal akzeptieren, annehmen, ja uneingeschränkt leben... Liegt nicht die Größe der Kinder gerade darin, dass sie das Leben nehmen wie es ist, jeden Tag wieder?
Heute ist Himmelfahrt, bald wird es Pfingsten werden. Aus den ehrlichen Bemühungen der abgesonderten Einzelnen entsteht durch das Pfingstfest eine Weite und Nähe der Gemeinschaft, das freudige und vielleicht auch ein bisschen wirre Teilen miteinander, wonach wir uns alle sehnen. Am Samstag feiern die Kinder und Erwachsenen des Kinderhauses „Gemeinschaft“, ich werde leider nicht dabei sein. Aber bereits heute spüre ich, wie sehr ich mich von der Wahrhaftigkeit des Bemühens getragen fühle.
13.05.2012
Geld schenken (2). Die Verwandlung der Gesellschaft
Ich weiß was es bedeutet, Geld
geschenkt zu kriegen. Ich gehöre zu den Menschen, die manchmal
kleinere zusätzliche Beträge brauchen, um über die Runden zu
kommen. Mein jüngster Sohn Joachim hat darüber eine klare Meinung,
er findet, dass ich nicht wirtschaftlich denken könne oder eben gar
nicht wolle. Ich selber sehe das auch so, würde auf Anfrage
allerdings hinzufügen, dass ich mich immer wieder in Tätigkeiten
und Projekte verliebe, die gerade wenig Geld bringen. Ich bin immer
wieder dort gelandet, wo die Ressourcen in dieser Hinsicht eher knapp
sind.
Jedoch habe ich trotzdem immer wieder kleinere Beträge an Organisationen oder Personen verschenken können, die sich in einem Engpass befanden oder befinden. Mein finanzielles Selbstverständnis könnte man „kleinkariert“ nennen: Ich halte meine Finanzen für gesund, solange ich die mehr oder weniger sichere Einschätzung habe, dass meine Einnahmen und Ausgaben etwa für die nächsten drei Monate ungefähr ausbalanciert sind. Sobald ich etwas übrig habe, folge ich der Neigung Extra-Sachen zu kaufen oder eben jemanden zu unterstützen. Sparen ist mir noch nie gelungen, ein Vermögen werde ich deswegen wohl auch nicht aufbauen.
Im Entwurf seiner Master-Arbeit für die Universität in Plymouth (siehe meinen letzten Blogtext) berichtet Andrea Valdinoci von acht Personen, die ein deftiges Vermögen haben (zwischen einer halben Million und 75 Million Euro) und bereits über Jahre einen Teil davon an Organisationen und Personen verschenken. Die Lebenswirklichkeit dieser Vermögenden ist mir fremd, ich brauche richtig viel Phantasie, um mir ausmalen zu können, was es heißt, ein paar Million Euro auf meinem Konto zu haben. Und ja, ich räume ein, dass meine konservativ-rote Arbeiterseele (mein Vater war Gewerkschafter) in einer dunklen Ecke mit der Frage ringt: Kann es richtig sein, dass einer Person so viel Geld zur Verfügung steht? Wie ist das im Lichte der Gerechtigkeit eigentlich zu verstehen?
Gerechtigkeit... In den Beschreibungen von Andrea Valdinoci wird deutlich, dass die Tatsache viel Geld zu haben, nicht unbedingt nur eine Freude bedeutet. In seinem Text wird von einer „moralischen Belastung“ gesprochen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Tatsache, dass das Vermögen auf Kriegsgewinne zurückgeht, oder auf Unternehmensverkäufe, auf die die Entlassung von sämtlichen Mitarbeitern folgte. Valdinoci schreibt: „Zum Teil wiegt die Belastung so schwer, dass den Interviewpartnern klar wurde, diese Mittel möchte ich nicht an meine Kinder weitergeben, sondern sie müssen verwandelt werden“.
Schenken bedeutet an dieser Stelle: Auf Grund des Wunsches Gerechtigkeit zu schaffen einen Ausgleich zu ermöglichen... Nun gibt es natürlich auch Vermögen, die ethisch gesprochen einwandfrei sind, sie werden wohl am häufigsten vorkommen. Auch mit sauberen Vermögen geht jedoch eine „moralische“ Frage einher, die sich nicht auf die Herkunft des Geldes, sondern auf das Ziel des Schenkens bezieht. Andrea Valdinoci spricht diesbezüglich von einer „Glaubwürdigkeitsfrage“ oder auch „Prüfungsfrage“: Will ich (mit dem Schenken) wirklich Strukturen verändern, oder will ich Strukturen bestätigen, um meine Macht zu erhalten, beziehungsweise auszuweiten?
Die acht Personen, die die Begleitung von Andrea Valdinoci gesucht haben, stellen sich offenbar diese Frage. Ich nehme jedoch an, dass längst nicht alle vermögenden Menschen sich auf diese Frage einlassen, stärker noch, mein Vorurteil besagt diesbezüglich, dass nur die wenigsten dies tun. Oder liege ich an dieser Stelle falsch, und es ist ein Schicksalsgesetz, dass die Frage früher oder später zwangsläufig auftaucht? Aus Valdinocis Beschreibungen geht hervor, dass der Schritt zum freilassenden Schenken aus biographischen Erfahrungen erfolgt.
Und nicht nur das, zusätzlich leitet der Schritt offensichtlich eine Art Wende in der Biographie ein. Einer der Beteiligten sagt: „Das Geld haben wurde sehr viel leichter, seit ich schenken kann, seit ich da persönlich auch gegeben habe. Das fing schon an mit dieser großen Spende für die Schule, aber schön wurde es aber eigentlich im Persönlichen. Ja, ich freue mich seither, dass ich das Vermögen habe“. Und eine andere Aussage: „Ja, das schwierige ist nicht selber auf das Geld zu verzichten, sondern die Frage, wem gebe ich es, wie gebe ich es, was macht es mir, was macht es mit dem anderen, ist es überhaupt richtig, was will ich denn eigentlich?“
Was will ich denn eigentlich? Ich verstehe die Zitate so, dass bei den Beteiligten das individuelle Wollen aus irgendeinem Grund mit dem „mächtigen Wesen des Geldes“ (siehe meinen letzten Blogtext) in Berührung gekommen ist. Eine Stärkung des Wollens – getragen von anfänglichen Erkenntnissen – findet statt. Die Persönlichkeit des Menschen fängt damit an, sich nicht vom Geld fremd bestimmen zu lassen, sondern umgekehrt die Welt mit Hilfe des Geldes frei zu gestalten.
Ich habe zwar kein Vermögen, sehe jedoch ein, dass nicht die Menge (oder Unmenge) des Geldes entscheidend ist. Ob man zehn Euro oder zehn Million Euro zu vergeben hat, die Fragen sind grundsätzlich die gleichen. Und ist es nicht so, dass gerade die geringeren Beträge, die wir jeden Tag wieder gedankenlos ausgeben, die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft bestätigen? Die Verwandlung der Gesellschaft läuft wohl übers Geld. Nächste Woche weiter..
Jedoch habe ich trotzdem immer wieder kleinere Beträge an Organisationen oder Personen verschenken können, die sich in einem Engpass befanden oder befinden. Mein finanzielles Selbstverständnis könnte man „kleinkariert“ nennen: Ich halte meine Finanzen für gesund, solange ich die mehr oder weniger sichere Einschätzung habe, dass meine Einnahmen und Ausgaben etwa für die nächsten drei Monate ungefähr ausbalanciert sind. Sobald ich etwas übrig habe, folge ich der Neigung Extra-Sachen zu kaufen oder eben jemanden zu unterstützen. Sparen ist mir noch nie gelungen, ein Vermögen werde ich deswegen wohl auch nicht aufbauen.
Im Entwurf seiner Master-Arbeit für die Universität in Plymouth (siehe meinen letzten Blogtext) berichtet Andrea Valdinoci von acht Personen, die ein deftiges Vermögen haben (zwischen einer halben Million und 75 Million Euro) und bereits über Jahre einen Teil davon an Organisationen und Personen verschenken. Die Lebenswirklichkeit dieser Vermögenden ist mir fremd, ich brauche richtig viel Phantasie, um mir ausmalen zu können, was es heißt, ein paar Million Euro auf meinem Konto zu haben. Und ja, ich räume ein, dass meine konservativ-rote Arbeiterseele (mein Vater war Gewerkschafter) in einer dunklen Ecke mit der Frage ringt: Kann es richtig sein, dass einer Person so viel Geld zur Verfügung steht? Wie ist das im Lichte der Gerechtigkeit eigentlich zu verstehen?
Gerechtigkeit... In den Beschreibungen von Andrea Valdinoci wird deutlich, dass die Tatsache viel Geld zu haben, nicht unbedingt nur eine Freude bedeutet. In seinem Text wird von einer „moralischen Belastung“ gesprochen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Tatsache, dass das Vermögen auf Kriegsgewinne zurückgeht, oder auf Unternehmensverkäufe, auf die die Entlassung von sämtlichen Mitarbeitern folgte. Valdinoci schreibt: „Zum Teil wiegt die Belastung so schwer, dass den Interviewpartnern klar wurde, diese Mittel möchte ich nicht an meine Kinder weitergeben, sondern sie müssen verwandelt werden“.
Schenken bedeutet an dieser Stelle: Auf Grund des Wunsches Gerechtigkeit zu schaffen einen Ausgleich zu ermöglichen... Nun gibt es natürlich auch Vermögen, die ethisch gesprochen einwandfrei sind, sie werden wohl am häufigsten vorkommen. Auch mit sauberen Vermögen geht jedoch eine „moralische“ Frage einher, die sich nicht auf die Herkunft des Geldes, sondern auf das Ziel des Schenkens bezieht. Andrea Valdinoci spricht diesbezüglich von einer „Glaubwürdigkeitsfrage“ oder auch „Prüfungsfrage“: Will ich (mit dem Schenken) wirklich Strukturen verändern, oder will ich Strukturen bestätigen, um meine Macht zu erhalten, beziehungsweise auszuweiten?
Die acht Personen, die die Begleitung von Andrea Valdinoci gesucht haben, stellen sich offenbar diese Frage. Ich nehme jedoch an, dass längst nicht alle vermögenden Menschen sich auf diese Frage einlassen, stärker noch, mein Vorurteil besagt diesbezüglich, dass nur die wenigsten dies tun. Oder liege ich an dieser Stelle falsch, und es ist ein Schicksalsgesetz, dass die Frage früher oder später zwangsläufig auftaucht? Aus Valdinocis Beschreibungen geht hervor, dass der Schritt zum freilassenden Schenken aus biographischen Erfahrungen erfolgt.
Und nicht nur das, zusätzlich leitet der Schritt offensichtlich eine Art Wende in der Biographie ein. Einer der Beteiligten sagt: „Das Geld haben wurde sehr viel leichter, seit ich schenken kann, seit ich da persönlich auch gegeben habe. Das fing schon an mit dieser großen Spende für die Schule, aber schön wurde es aber eigentlich im Persönlichen. Ja, ich freue mich seither, dass ich das Vermögen habe“. Und eine andere Aussage: „Ja, das schwierige ist nicht selber auf das Geld zu verzichten, sondern die Frage, wem gebe ich es, wie gebe ich es, was macht es mir, was macht es mit dem anderen, ist es überhaupt richtig, was will ich denn eigentlich?“
Was will ich denn eigentlich? Ich verstehe die Zitate so, dass bei den Beteiligten das individuelle Wollen aus irgendeinem Grund mit dem „mächtigen Wesen des Geldes“ (siehe meinen letzten Blogtext) in Berührung gekommen ist. Eine Stärkung des Wollens – getragen von anfänglichen Erkenntnissen – findet statt. Die Persönlichkeit des Menschen fängt damit an, sich nicht vom Geld fremd bestimmen zu lassen, sondern umgekehrt die Welt mit Hilfe des Geldes frei zu gestalten.
Ich habe zwar kein Vermögen, sehe jedoch ein, dass nicht die Menge (oder Unmenge) des Geldes entscheidend ist. Ob man zehn Euro oder zehn Million Euro zu vergeben hat, die Fragen sind grundsätzlich die gleichen. Und ist es nicht so, dass gerade die geringeren Beträge, die wir jeden Tag wieder gedankenlos ausgeben, die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft bestätigen? Die Verwandlung der Gesellschaft läuft wohl übers Geld. Nächste Woche weiter..
11.05.2012
Sie ist da!
Unsere Tochter Ilana Malena
wurde gestern geboren. Sie schaut
mit großen Augen in die Welt,
von Anfang an auf der Suche.
Wir haben uns gefunden...
wurde gestern geboren. Sie schaut
mit großen Augen in die Welt,
von Anfang an auf der Suche.
Wir haben uns gefunden...
06.05.2012
Geld schenken. (1). Über Macht, Vermögen und einen neuen Weg
Geld ist ein explosives Thema. Obwohl
es einen wesentlichen Bestandteil der Gesellschaft ausmacht – ohne
Geld läuft ja kaum etwas – sind unsere Vorstellungen darüber
nicht nur beschränkt, sondern eben manchmal grundfalsch. Man braucht
sich eigentlich nur ein paar Minuten mit dem Thema zu beschäftigen,
um einzusehen, wie kollektiv hilflos wir in diesem Bereich sind. Als
ich vor kurzem einen Text von Andrea Valdinoci las, den Entwurf zur
Einreichung einer Master-Arbeit für die Universität in Plymouth,
habe ich mal wieder feststellen müssen, wie sehr mir diesbezüglich
die begriffliche Schärfe fehlt.
Wer ist Andrea Valdinoci? Ich habe ihn vor ein paar Jahren in der GLS Treuhand e.V. kennengelernt. Er war damals als Mitarbeiter der Zukunftsstiftung Soziales Leben vor allem mit „Schenken“ beschäftigt, operierte sozusagen als Vermittler zwischen Menschen, die schenken und denen, die sich beschenken lassen. Und auch hier gilt: Man braucht sich nur ein paar Minuten mit der Geste des Gebens und Nehmens der Beteiligten zu befassen, um zu verstehen, wie delikat die Rolle des Vermittlers an dieser Stelle ist. Mir sind die Empfindlichkeiten durchaus bekannt, weil ich damals zu den Beschenkten gehörte.
Mittlerweile hat Andrea die Seite gewechselt. Er ist jetzt geschäftsführender Gesellschafter einer Holding mit dem Namen „Neuguss“, einem Verbund von fünf Unternehmungen in Deutschland und Holland, die einen Teil ihres wirtschaftlichen Gewinns an kulturelle Initiativen weiterleiten, an Einrichtungen und Organisationen also, die ihrer Natur nach nicht im Stande sind, die nötigen finanziellen Mittel selber zu generieren. Die Holding lässt sich von Gesichtspunkten inspirieren, die Rudolf Steiner vor fast hundert Jahren im Rahmen seiner „Sozialen Dreigliederung“ geäußert hat. Andrea Valdinoci ist somit sowohl zum Unternehmer als auch zum „Geldgeber“ geworden.
In seiner Master-Arbeit versucht er sich gedanklich an das Wesen des Schenkens heran zu tasten. In seinem Text vertieft er sich erst in die vorhandene wissenschaftliche Literatur, und macht deutlich, dass das Schenken im heutigen Denken über Wirtschaft und Geld keinen hohen Stellenwert hat. Die Frage zum Beispiel, inwieweit das Schenken ein „selbstloser“ Akt ist oder sein kann, wird in der Literatur ziemlich krude beantwortet, der Philosoph Pierre Bourdieu etwa bezeichnet diese Gabe als ein „Herrschaftsinstrument, um andere zu dominieren“. Der Geist des Kapitalismus – die Wirtschaft als Verteilung von knappen Ressourcen, gesteuert durch individuelle Gier (Adam Smith) – lässt wenig Spielraum für den „Gutmenschen“.
Andrea Valdinoci grenzt die Schenkung vom „Herrschaftsinstrument“ und vom „verschleierten Kauf“ ab, er schreibt: „Meine These lautet, dass es sich nur dann um eine Schenkung handelt, wenn der Schenker nicht auf eine Gegenleistung in jeglicher Form abzielt“. Er zitiert den Anthroposophen und Mitgründer der Triodosbank Lex Bos, der in einer Publikation aus dem Jahr 1998 von der Notwendigkeit sprach, „eine neue Schenkungs- und Dankkultur zu entwickeln“. In einem Kernsatz seiner Arbeit schreibt Andrea Valdinoci: „Das Schenken ist eine Möglichkeit, sich auf einen neuen Weg zu begeben, persönlich Verantwortung zu übernehmen, und die Welt freilassend mitzugestalten“.
Das Schenken hat klare Vorteile, auch wirtschaftliche – in den nächsten Wochen komme ich darauf noch zurück. Nach der Bewertung der wissenschaftlichen Literatur berichtet Andrea Valdinoci in seiner Arbeit von acht Personen, die er als Vermögensberater über mehrere Jahre begleitet hat. Die Vermögen der Beteiligten, so schreibt Valdinoci, liegen zwischen einer halben Million und 75 Million Euro. In den Interviews befragt er die Vermögenden über ihre Erfahrungen mit dem Schenken. Wie erfahren sie es, „vermögend“ zu sein? Wie sind sie zum Schenken gekommen? Warum machen sie es überhaupt? Was hat das Schenken mit ihnen gemacht? Mit welchen Problemen werden sie dabei konfrontiert?
Aus der Bewertung der Antworten geht unter anderem hervor, dass das Besitzen von Geld „eine Machtdynamik“ entwickeln kann, die die Beziehung zu anderen Menschen stark prägt. Die Wirkung des Geldes wird als Teil der eigenen Persönlichkeit erlebt, in meinen Worten: Mein Vermögen (oder gerade „Unvermögen“) lässt sich in der Lebenspraxis nur schwer von meiner Persönlichkeit trennen. Die Wirkung meines Geldes vermischt sich mit der Wirkung meiner Person auf andere Menschen, auch wenn ich davon keine Ahnung habe, oder es nicht für wahr haben will.
Grundfalsch ist die Annahme, dass Geld eine rein objektive und quantitative Hoheit ausmacht, die sich mit „Zahlen und Figuren“ (Novalis) begreifen und ergreifen lässt. Im Geld wirkt ein mächtiges Wesen, das uns täglich überfordert, uns somit auf einer unbewussten Ebene fremd ansteuert. Mit der bewussten Akzeptanz dieser Tatsache, so vermittelt uns Andrea Valdinoci, öffnet sich tatsächlich ein neuer Lebensweg, der anfänglich recht abenteuerlich aussieht. In den nächsten Wochen werde ich über einige Stationen dieses Weges berichten.
29.04.2012
Liebe Ruthild, liebe Roswitha, lieber Henning, mein Beitrag...
…in der vorletzten Woche über
„Anthroposophie als Hebel in der Geschichte“ hat in den
Kommentaren eine Auseinandersetzung ausgelöst, die es so auf meinem
Weblog noch nie gegeben hat. Einerseits wundert mich das im
Nachhinein nicht, denn mein Text war sicherlich einseitig,
unvollständig, vielleicht eben „zu schön“, wie der Kommentator
„Henning“ es formulierte. Es stimmt durchaus, dass ich manchmal
den Dichter-in-mir (Friedrich Schiller: „Alle Menschen werden
Brüder“! Stimmt das eigentlich? Und: Wie lange wird das bitte noch
dauern?) in den Vordergrund schiebe. Einfach gesagt: Ich fühle mich
wohl, wenn der Dichter-in-mir spricht...
Es gab also gute Gründe, mich auf die Einseitigkeiten meines Textes hinzuweisen. Auch mich beschäftigt immer wieder die Neigung zu einer Beliebigkeit, die bereits ein paar Jahrzehnte lang versucht, die spirituelle Landschaft quasi aufzuheitern. Und ich bin mit „Henning“ einverstanden, dass man sich immer wieder – nicht nur gedanklich, sondern vor allem auch willentlich – abgrenzen muss. Harte Beispiele machen das deutlich, Stichwort Holocaust... Und ja, manchmal werden in der Waldorfbewegung pädagogische Sichtweisen vertreten, die auch meiner Meinung nach weit von ihrem Wesen entfernt sind.
Andererseits hat mich die Auseinandersetzung jedoch verdutzt, verdattert, ja, aus dem Lot gebracht. Es kostet mich Mühe, die Schönheit in der Debatte zu sehen, sie zu schätzen, aufrecht zu erhalten, nicht weil es eine Debatte ist (der Dichter-in-mir liebt Streitgespräche – und kennt nichts Schöneres als die göttlich-geilen Beschimpfungen in der Edda!), sondern weil in den Kommentaren an zwei Stellen von „Abschied“ gesprochen wird. „Henning“ schreibt: „Ich weiß gar nicht so recht, in welches Wespennest ich da gestochen habe und halte jetzt mal sicherheitshalber den Mund an diesem Ort zu diesem Thema. Streit sollte man vermeiden, wo er nicht unbedingt nötig ist. Hier ist er komplett unnötig. Ich hatte auf eine nachdenkliche Diskussion gehofft“.
Und „Roswitha“: „nun habe ich den (buchstaben-)salat, (…) also werde ich wie zuvor den laptop nur als schreibmaschine und informanten nutzen und lasse euch wieder unter euch...“ Für den Dichter-in-mir („Alle Menschen werden Schwestern!“) sind das harte Worte, die weh tun. Das Innehalten von „Henning“ kann ich halbwegs hinnehmen, der Abschied von „Roswitha“ macht mich traurig, gibt mir das Gefühl, versagt zu haben. Auf meinem Weblog, so sagt eine naive Stimme in mir, sollte man sich gerade nicht verabschieden wollen!
Was macht das Wespennest aus? Ich verstehe die Auseinandersetzung in den Kommentaren so, dass zwei Wahrheiten aufeinander prallen; die erste besagt, dass Beliebigkeit bequem ist, die zweite, dass festgelegte Urteile genau so bequem sind. „Henning“ findet meinen Text „zu schön“, weil ich die Schattenseite der Toleranz nicht erwähne, „Roswitha“ und „Ruthild“ folgen der zweiten Spur. „Roswitha“ formuliert das so: „bequem??? was ist bequem daran, wenn alles gleiche gültigkeit hat? und man sich darum nicht nur um das, was geschieht, sondern auch um das, was nicht geschieht, scheren muss?“
Eigentlich müsste es nicht schwierig sein, die beiden Sichtweisen als berechtigt anzuerkennen. Warum aber dann doch die Unruhe im Karton? Ich bin mit „Roswitha“ nicht einverstanden, dass die Verärgerung dadurch entsteht, dass wir nicht von Angesicht zu Angesicht argumentieren, sondern in der virtuellen Welt des Internets, also ohne die physische (und seelische?) Nähe. Die gleiche Szenerie kann sich auch an einem Tisch abspielen.
Ich kann in die Seelen der Beteiligten nicht schauen, höchstens die Frage stellen: An welcher wunden Stelle bin ich berührt worden? Die Reaktion des Kommentators „Henning“ hat mich verunsichert, weil auf einmal der Dichter-in-mir nackt und hilflos im Raum stand, ich fühlte mich wieder mal naiv, schwärmerisch, allzu hoffnungsvoll... Meine Wunde, so stellte ich direkt nach dem Lesen des Kommentars fest, liegt in dem Umstand, dass ich zwar unverschämt Liebeserklärungen abgeben kann, manchmal dabei aber ein bisschen „unrealistisch“ werde. Meine Stärke, so erzählte ich mir, liegt nicht im differenzierten Argumentieren, sondern darin, die tragischen Schönheiten des Lebens sichtbar zu machen.
Zu schön... Können Texte auch „zu wahr“ sein, oder eben „zu gut“? (Heidegger sprach ja von den „großen Drei“: dem Wahren, dem Schönen, dem Guten...). Ich glaube, das Texte erst dann Texte sind, wenn sie gelesen und verinnerlicht werden, und wenn sie dann wieder nach außen treten, wenn auf die Texte reagiert wird – in welcher Form auch immer. Manchmal tut so etwas dem Autor weh, die Schönheit des Vorgangs liegt jedoch gerade darin, dass er seine Texte abgeben kann. Mein Text wird Dein Text, Dein Text wird unserer Text.
Die Rezeption eines Textes gehört zum Text. Texte haben eine Biographie, die von den Lesern mitgestaltet wird. („Der Zauberberg“ von Thomas Mann ist längst nicht mehr „Der Zauberberg“, den er 1924 veröffentlicht hat, und ich bin sicher, dass das der Autor auch klar erkannt hat.) Die Schönheit einer Biographie geht immer mit kleinen oder großen Schmerzen einher. Und davon sollte man sich, so meine ich, nicht verabschieden.
Es gab also gute Gründe, mich auf die Einseitigkeiten meines Textes hinzuweisen. Auch mich beschäftigt immer wieder die Neigung zu einer Beliebigkeit, die bereits ein paar Jahrzehnte lang versucht, die spirituelle Landschaft quasi aufzuheitern. Und ich bin mit „Henning“ einverstanden, dass man sich immer wieder – nicht nur gedanklich, sondern vor allem auch willentlich – abgrenzen muss. Harte Beispiele machen das deutlich, Stichwort Holocaust... Und ja, manchmal werden in der Waldorfbewegung pädagogische Sichtweisen vertreten, die auch meiner Meinung nach weit von ihrem Wesen entfernt sind.
Andererseits hat mich die Auseinandersetzung jedoch verdutzt, verdattert, ja, aus dem Lot gebracht. Es kostet mich Mühe, die Schönheit in der Debatte zu sehen, sie zu schätzen, aufrecht zu erhalten, nicht weil es eine Debatte ist (der Dichter-in-mir liebt Streitgespräche – und kennt nichts Schöneres als die göttlich-geilen Beschimpfungen in der Edda!), sondern weil in den Kommentaren an zwei Stellen von „Abschied“ gesprochen wird. „Henning“ schreibt: „Ich weiß gar nicht so recht, in welches Wespennest ich da gestochen habe und halte jetzt mal sicherheitshalber den Mund an diesem Ort zu diesem Thema. Streit sollte man vermeiden, wo er nicht unbedingt nötig ist. Hier ist er komplett unnötig. Ich hatte auf eine nachdenkliche Diskussion gehofft“.
Und „Roswitha“: „nun habe ich den (buchstaben-)salat, (…) also werde ich wie zuvor den laptop nur als schreibmaschine und informanten nutzen und lasse euch wieder unter euch...“ Für den Dichter-in-mir („Alle Menschen werden Schwestern!“) sind das harte Worte, die weh tun. Das Innehalten von „Henning“ kann ich halbwegs hinnehmen, der Abschied von „Roswitha“ macht mich traurig, gibt mir das Gefühl, versagt zu haben. Auf meinem Weblog, so sagt eine naive Stimme in mir, sollte man sich gerade nicht verabschieden wollen!
Was macht das Wespennest aus? Ich verstehe die Auseinandersetzung in den Kommentaren so, dass zwei Wahrheiten aufeinander prallen; die erste besagt, dass Beliebigkeit bequem ist, die zweite, dass festgelegte Urteile genau so bequem sind. „Henning“ findet meinen Text „zu schön“, weil ich die Schattenseite der Toleranz nicht erwähne, „Roswitha“ und „Ruthild“ folgen der zweiten Spur. „Roswitha“ formuliert das so: „bequem??? was ist bequem daran, wenn alles gleiche gültigkeit hat? und man sich darum nicht nur um das, was geschieht, sondern auch um das, was nicht geschieht, scheren muss?“
Eigentlich müsste es nicht schwierig sein, die beiden Sichtweisen als berechtigt anzuerkennen. Warum aber dann doch die Unruhe im Karton? Ich bin mit „Roswitha“ nicht einverstanden, dass die Verärgerung dadurch entsteht, dass wir nicht von Angesicht zu Angesicht argumentieren, sondern in der virtuellen Welt des Internets, also ohne die physische (und seelische?) Nähe. Die gleiche Szenerie kann sich auch an einem Tisch abspielen.
Ich kann in die Seelen der Beteiligten nicht schauen, höchstens die Frage stellen: An welcher wunden Stelle bin ich berührt worden? Die Reaktion des Kommentators „Henning“ hat mich verunsichert, weil auf einmal der Dichter-in-mir nackt und hilflos im Raum stand, ich fühlte mich wieder mal naiv, schwärmerisch, allzu hoffnungsvoll... Meine Wunde, so stellte ich direkt nach dem Lesen des Kommentars fest, liegt in dem Umstand, dass ich zwar unverschämt Liebeserklärungen abgeben kann, manchmal dabei aber ein bisschen „unrealistisch“ werde. Meine Stärke, so erzählte ich mir, liegt nicht im differenzierten Argumentieren, sondern darin, die tragischen Schönheiten des Lebens sichtbar zu machen.
Zu schön... Können Texte auch „zu wahr“ sein, oder eben „zu gut“? (Heidegger sprach ja von den „großen Drei“: dem Wahren, dem Schönen, dem Guten...). Ich glaube, das Texte erst dann Texte sind, wenn sie gelesen und verinnerlicht werden, und wenn sie dann wieder nach außen treten, wenn auf die Texte reagiert wird – in welcher Form auch immer. Manchmal tut so etwas dem Autor weh, die Schönheit des Vorgangs liegt jedoch gerade darin, dass er seine Texte abgeben kann. Mein Text wird Dein Text, Dein Text wird unserer Text.
Die Rezeption eines Textes gehört zum Text. Texte haben eine Biographie, die von den Lesern mitgestaltet wird. („Der Zauberberg“ von Thomas Mann ist längst nicht mehr „Der Zauberberg“, den er 1924 veröffentlicht hat, und ich bin sicher, dass das der Autor auch klar erkannt hat.) Die Schönheit einer Biographie geht immer mit kleinen oder großen Schmerzen einher. Und davon sollte man sich, so meine ich, nicht verabschieden.
22.04.2012
Unterwegs, jedoch irgendwie bereits eingetroffen
Das Kinderzimmer ist fertig, Wiege und Kommode stehen bereit, die ersten Klamotten sind gekauft, die Stoffwindeln ebenso. Irgendwann in den nächsten Wochen wird sie kommen, unsere Tochter, die bereits einen Namen hat, den wir allerdings noch nicht verraten wollen. Meine Lebensgefährtin Vanda und ich sind im Warten, sehr im Warten, das Warten macht im Moment die Hauptsache unseres Lebens aus.
Sie ist natürlich bereits da, unsere Tochter, sie ist im runden Bauch ihrer Mutter, der nicht nur rund, sondern auch schwer geworden ist. Vanda wackelt wie ein Schwan über den Flur, sitzt verträumt auf dem Hocker in der Küche, umfasst sanft seufzend mit ihren Händen den gespannten Innenraum, der längst unübersehbarer Außenraum geworden ist.
Manchmal meldet unsere Tochter sich. Was sie dann genau macht, ist nicht immer klar. Sie bewegt sich, kreiert von Innen aus zum Beispiel einen kleinen Buckel an der Bauchwand, wir versuchen dann festzustellen, ob sie gerade ihren Po dreht oder mit einem Fuß spielt. Und ja, wir haben deutlich bemerkt, dass sie nicht nur etwas macht, sondern auch mitmacht, sie reagiert auf unsere vorsichtigen Annäherungen, Martin Buber würde an dieser Stelle sagen: Sie ist bereits „dialogisch“ eingestellt.
Sie ist also da, allerdings irgendwie doch noch im Kommen, ich meine: Sie ist noch nicht „irdisch“ da, zwischen ihrer Präsenz in mir – in meinen Gefühlen und Vorstellungen ist sie sehr prominent anwesend – und ihrer handfesten Körperlichkeit, etwa drei Kilo schwer, befindet sich eine glatte Wand, die sie schützt, bedeckt, noch verborgen hält. Sie lässt sich nicht sehen, nicht riechen, kaum hören, nur indirekt betasten.
Ich habe in der letzten Zeit immer wieder versucht, in mir ein Empfinden dafür zu erwecken, was es heißt, in einem Mutterbauch zu sein. Wir alle waren einmal dort, nur die Aller-Aller-Allerwenigsten können sich an den Zustand erinnern, ich würde sagen: Das Leben hat es gerade so eingerichtet, dass wir uns daran nicht erinnern sollen. Das Sein im Mutterbauch ist alles, deswegen völlig unbewusst. „Alles“ ist uns grundsätzlich zu viel (bis wir sterben: Der Tod bringt „alles“ wieder zurück).
Als wir in der letzten Woche das Gestell der hängenden Wiege zusammen schraubten (danke Martin, Du hast es vor mehr als dreißig Jahren für deine Kinder gebaut!) und die süßen Klamotten in die Schubladen legten, wurde mir auf einmal klar: Unsere anreisende Tochter hat bereits die Regie ihres Lebens in die Hand genommen. Nein, sie wollte die Wiege nicht parallel an der Wand stehen haben, sondern quer zwischen Fenster und Wand. „Warum quer?“, fragte ich. „Weil ich das so will“, meinte sie. Ja richtig, das Gestell passt genau zwischen Fenster und Wand, genauer könnte es nicht sein...
Ich war in meinem Leben noch nie so intensiv auf bekannt Unbekanntes orientiert, vielleicht weil ich bereits 61 Jahre alt bin, vielleicht weil ich mich oft wie eine reife Melone fühle, vielleicht weil mir der Tod mittlerweile ein bisschen vertrauter ist – an dieser Schwelle fängt das Leben ja erst recht an. Ich war noch nie so subtil-fragil dialogisch eingerichtet, so offen für kleine Sachen, die groß sind, so bereit auf die kleinen Risse in der Haut meiner Seele zu schauen, dort, wo das vertiefte und unsichtbare Leben süß-sauer duftet, wo die unsichtbaren Farben nicht für die Augen sichtbar, sondern für die innere Ohren hörbar werden, wo Eigennamen nicht gesprochen, sondern gesungen werden.
Sie ist bereits da, jedoch noch unterwegs, und bringt das große Leben mit, das es bereits gibt. Ich warte und warte nicht. Und immer wieder gehe ich in ihr Zimmer, schaue auf die Wiege und staune darüber, dass die quere Position gerade zwischen Fenster und Wand passt. „Warum quer?“ Sie wird diese Frage, so bin ich sicher, mit ihrem Leben beantworten.