In einem sehr schönen Kommentar schrieb „b. b.“ letzte Woche über „das Wunder des Erwachens des kleinen Kindes an sich selbst“. Im Kommentar wird von einer „feinen Arbeit“ gesprochen, „die jeden Tag neu zu beginnen ist“. Vermutlich arbeitet „b. b.“ in einem Kindergarten, denn sie oder er stellt die Frage: „In welcher Art und Weise müsste ein Kindergarten sich gestalten im Übergang zur Schule, ohne dieses Wunder zu zerdrücken?“
Wer sich in Kindergärten ein bisschen auskennt, weiß, wie dringend diese Frage ist. Mit der Schule fängt der Leistungsdruck an, mit dem Leistungsdruck beginnt der Umstand, dass die Ansprüche-von-außen das freie Erwachen an und zu sich selbst in den Hintergrund rückt. Das Leben mit „Vorschulkindern“ (eine Kategorie die gesellschaftlich definiert ist) ist in Kindergärten manchmal ein Abenteuer. Die Schatten der Schule reichen bereits bis in Kindergärten.
Amares ist ein „Ort für Kinder“ auf einem ehemaligen Betriebshof der Stadt Köln. Der Ort liegt im Stadtwald, umfasst ein spannendes Gelände, eine Reihe alter Garagen (die als Werkstätten umgebaut wurden), hat ein Team von Erzieherinnen und Erziehern, die vor Ort ebenfalls tätig sind: zum Beispiel als Künstlerin, Schmied, Unternehmerin oder Tanztherapeutin. Bei Amares gibt es im Moment zwei Kindergartengruppen: eine für Kinder unter drei und eine für Kinder über drei.
Aus der Gruppe der „Großen“ ist vor kurzem ein Verein mit dem wunderbaren Namen „Schleifenverein“ hervorgegangen. In diesem Verein gibt es zwölf „Vorschulkinder“, die sich im Sommer von Amares verabschieden werden, um in die Schule zu gehen. Bekanntlich wird von Vorschulkindern erwartet, dass sie im Stande sind, die eigenen Schuhschleifen zu binden, deswegen der Name „Schleifenverein“.
Um in einem Kindergarten mit dem Übergang in die Schule umgehen zu können, wird Humor dringend gebraucht. Der Ernst der Lage sollte besser nicht dadurch noch schwerer und schwieriger gemacht werden, dass die Erwachsenen sich auf einen Krampf einlassen. Die Kinder reagieren erstmals gar nicht auf die „Objektivität der Ansprüche“, sondern auf die Art und Weise wie die Erwachsenen damit offenbar umgehen. Die Leichtigkeit des Humors, auch wenn er einen Tick Ironie mitbringt, wirkt wie ein Frühlingstag: Die Schatten sehen nicht mehr so schlimm aus.
Humor wird aus Weisheit geboren. Aber mit einer gewissen Leichtigkeit ist es allerdings nicht getan, und die Mitarbeiter von Amares wissen das auch. Wenn wir von einer Kultur des Herzens reden und meinen, dass es (wie in meinem Blog der letzten Woche beschrieben) dabei um die Erkenntnis geht, dass „nicht die Umstände & Vorgänge & Prozesse die Hauptsachen des Lebens ausmachen, sondern die Art und Weise wie wir uns als Ich zu ihnen verhalten“, stehen noch ein paar weitere Fragen an.
Ich möchte einen Aspekt beleuchten. Ich bin der Meinung, dass die Pädagogen von heute, wollen sie sich wirklich souverän vom Ich aus zu den Lebensfragen in Kindergärten verhalten, nicht anders können, als prinzipiell „konspirativ“ zu sein. Der Schleifenverein bei Amares ist eine „leichtsinnige“ (schönes Wort!) und „subversive“ Organisation – auch an dieser Stelle mischt sich ein bisschen Ironie hinein – die unausgesprochen im Sinne von Michel Foucault einen „Ort des Widerstands“ darstellt. Kindergärten ohne den Geist des Widerstands sind schlechte Kindergärten.
Die Zuwendung zum Selbst – meinem Selbst und deinem Selbst, zum Selbst des Kindes – verlangt zweierlei. Einerseits gilt es die Umstände & Vorgänge & Prozesse scharf ins Auge zu fassen und zu respektieren. Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft, die naiv auf Leistungsdruck setzt. Andererseits brauchen die Kinder eine uneingeschränkte Loyalität von Seiten der beteiligten Erwachsenen, in der Tat eine „konspirative“ Aufmerksamkeit.
Das Selbst des Menschen ist eine delikate Sache. Was „Alma“ & „Bela“ & „Konrad“ & „Svea“ (vier prominente Mitglieder des Schleifenvereins) ausmacht, ist nicht in Worte zu fassen, nicht einmal annähernd zu fixieren. Sicher ist allerdings, dass sie NICHT das perfekte Gegenbild der gesellschaftlichen Ansprüche sind. Das delikate Eigene entfaltet sich in sozialen Räumen des Vertrauens (das trifft nicht nur auf Kinder zu, sondern auch auf Erwachsene). Und ist Vertrauen nicht prinzipiell subversiv?
17.12.2012
16.12.2012
Aufbruch mit Scham. Im Zug nach Gummersbach
Mal wieder aufbrechen? Nach
fünfundvierzig Jahren? Mich mal wieder in den Fluss der Zeit
stürzen? Mich von Melodien leiten lassen? Mal wieder über eine
Schwelle gehen? Ohne Scham?
Diesmal nicht ohne Scham.
Der Mann ist noch jung. Er ist
unterwegs, im Zug, von Köln nach Gummersbach, lehnt sich bequem
zurück, liest ein Buch das ich kenne, das ich durch und durch kenne:
„Unterwegs“ von Jack Kerouac, „On the road“ heißt es bei
mir, ich habe es vor einer Ewigkeit gelesen, weil, ja, damals war ich
unterwegs, ich dachte: gegen den Strom, heute ist mit klar: es war
mit dem Strom.
Heimlich beobachte ich den jungen
Mann. Er liest über eine Vergangenheit, die nicht seine ist, warum
sollte er sonst Kerouac lesen? Mit dem heutigen Tag hat Kerouac nur
wenig zu tun, nicht gar nichts, weil eine Vergangenheit nur dann eine
Vergangenheit ist, wenn sie die Gegenwart berührt; nur im Nu, im
Jetzt gibt es so etwas Irriges wie Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft – ich meine: im Hier und Jetzt steigert sich die Gegenwart.
Behaupten, dass Kerouac brennend aktuell wäre, käme jedoch der
Aussage gleich, dass sich im Zug nach Gummersbach etwas bewegt.
Er liest weiter, ein Drittel des
Buches hat er hinter sich. Wie war es auch wieder mit Kerouac? Er war
ein Beat. Er wollte mit dem Herzschlag des Lebens leben, das heißt:
immer im Bus, nach Frisco, nach Denver, nach NYC. Die Details sind
mir nicht mehr so präsent, ich meine jedoch, er brauchte aus Mexiko
Papiere, um sich von seiner Frau zu trennen, so etwas... Die Ehe war
nicht in Ordnung, zu wenig Beat... Auch Allen Ginsberg kam in dem
Buch vor, hieß aber anders, weiß nicht mehr wie; er redete
allerdings über das Leben wie Karl Marx über das Kapital schrieb:
ziemlich überzeugend.
Aufbruch also, weg vom Hier und Jetzt
zu einem anderen Hier und Jetzt. Den Gesundheitsterror gab es damals
noch nicht; den Gedanken, dass das Höchste im Leben die Abwesenheit
von Krankheiten sei kursierte damals nicht, schlief noch wie ein
Jagdhund im Korb. Überall wurde immer geraucht, getrunken,
gekifft... Und gefickt... Die Poesie der Beats war irgendwie hart,
irgendwie zart, irgendwie dringend, irgendwie grenzenlos... Sie
sprach von Aufbruch ohne Scham...
Hit the road, Jack... Der Bummelzug
nach Gummersbach kommt an Dierenhausen vorbei, hält ein paar
Minuten, niemand steigt aus, niemand steigt ein, der junge Mann liest
weiter, verschiebt seinen Po manchmal ein bisschen, die Sitze sind ja
auch steif und unbequem. Aber er braucht sich nicht wirklich zu
bewegen, Kerouac hat es bereits getan.
Ich schließe meine Augen und bewege
mich. Und irgendwo spüre ich eine Sehnsucht nach Aufbruch, dieses
Mal jedoch nach einem anderen, nicht einem in Bussen oder Zügen (die
sind übrigens längst rauchfrei), nicht von dringenden Texten
begleitet (die sind längst veröffentlicht; was gibt es noch zu
schreiben?), nicht um Scheidungspapiere aufzutreiben (die Trennung
hat längst stattgefunden). Und vor allem: nicht ohne Scham.
Ohne Scham komme ich nicht zu mir.