…in der vorletzten Woche über
„Anthroposophie als Hebel in der Geschichte“ hat in den
Kommentaren eine Auseinandersetzung ausgelöst, die es so auf meinem
Weblog noch nie gegeben hat. Einerseits wundert mich das im
Nachhinein nicht, denn mein Text war sicherlich einseitig,
unvollständig, vielleicht eben „zu schön“, wie der Kommentator
„Henning“ es formulierte. Es stimmt durchaus, dass ich manchmal
den Dichter-in-mir (Friedrich Schiller: „Alle Menschen werden
Brüder“! Stimmt das eigentlich? Und: Wie lange wird das bitte noch
dauern?) in den Vordergrund schiebe. Einfach gesagt: Ich fühle mich
wohl, wenn der Dichter-in-mir spricht...
Es gab also gute Gründe, mich auf die
Einseitigkeiten meines Textes hinzuweisen. Auch mich beschäftigt
immer wieder die Neigung zu einer Beliebigkeit, die bereits ein paar
Jahrzehnte lang versucht, die spirituelle Landschaft quasi
aufzuheitern. Und ich bin mit „Henning“ einverstanden, dass man
sich immer wieder – nicht nur gedanklich, sondern vor allem auch
willentlich – abgrenzen muss. Harte Beispiele machen das deutlich,
Stichwort Holocaust... Und ja, manchmal werden in der Waldorfbewegung
pädagogische Sichtweisen vertreten, die auch meiner Meinung nach
weit von ihrem Wesen entfernt sind.
Andererseits
hat mich die Auseinandersetzung jedoch verdutzt, verdattert, ja, aus
dem Lot gebracht. Es kostet mich Mühe, die Schönheit in der
Debatte zu sehen, sie zu schätzen, aufrecht zu erhalten, nicht weil
es eine Debatte ist (der Dichter-in-mir liebt Streitgespräche –
und kennt nichts Schöneres als die göttlich-geilen Beschimpfungen
in der Edda!), sondern weil in den Kommentaren an zwei Stellen von
„Abschied“ gesprochen wird. „Henning“ schreibt: „Ich weiß
gar nicht so recht, in welches Wespennest ich da gestochen habe und
halte jetzt mal sicherheitshalber den Mund an diesem Ort zu diesem
Thema. Streit sollte man vermeiden, wo er nicht unbedingt nötig ist.
Hier ist er komplett unnötig. Ich hatte auf eine nachdenkliche
Diskussion gehofft“.
Und
„Roswitha“: „nun habe ich den (buchstaben-)salat, (…) also
werde ich wie zuvor den laptop nur als schreibmaschine und
informanten nutzen und lasse euch wieder unter euch...“ Für den
Dichter-in-mir („Alle Menschen werden Schwestern!“) sind das
harte Worte, die weh tun. Das Innehalten von „Henning“ kann ich
halbwegs hinnehmen, der Abschied von „Roswitha“ macht mich
traurig, gibt mir das Gefühl, versagt zu haben. Auf meinem Weblog,
so sagt eine naive Stimme in mir, sollte man sich gerade nicht
verabschieden wollen!
Was macht
das Wespennest aus? Ich verstehe die Auseinandersetzung in den
Kommentaren so, dass zwei Wahrheiten aufeinander prallen; die erste
besagt, dass Beliebigkeit bequem ist, die zweite, dass festgelegte
Urteile genau so bequem sind. „Henning“ findet meinen Text „zu
schön“, weil ich die Schattenseite der Toleranz nicht erwähne,
„Roswitha“ und „Ruthild“ folgen der zweiten Spur. „Roswitha“
formuliert das so: „bequem??? was ist bequem daran, wenn alles
gleiche gültigkeit hat? und man sich darum nicht nur um das, was
geschieht, sondern auch um das, was nicht geschieht, scheren muss?“
Eigentlich müsste es nicht schwierig
sein, die beiden Sichtweisen als berechtigt anzuerkennen. Warum aber
dann doch die Unruhe im Karton? Ich bin mit „Roswitha“ nicht
einverstanden, dass die Verärgerung dadurch entsteht, dass wir nicht
von Angesicht zu Angesicht argumentieren, sondern in der virtuellen
Welt des Internets, also ohne die physische (und seelische?) Nähe.
Die gleiche Szenerie kann sich auch an einem Tisch abspielen.
Ich kann in die Seelen der Beteiligten
nicht schauen, höchstens die Frage stellen: An welcher wunden Stelle
bin ich berührt worden? Die Reaktion des Kommentators „Henning“
hat mich verunsichert, weil auf einmal der Dichter-in-mir nackt und
hilflos im Raum stand, ich fühlte mich wieder mal naiv,
schwärmerisch, allzu hoffnungsvoll... Meine Wunde, so stellte ich
direkt nach dem Lesen des Kommentars fest, liegt in dem Umstand, dass
ich zwar unverschämt Liebeserklärungen abgeben kann, manchmal dabei
aber ein bisschen „unrealistisch“ werde. Meine Stärke, so
erzählte ich mir, liegt nicht im differenzierten Argumentieren,
sondern darin, die tragischen Schönheiten des Lebens sichtbar zu
machen.
Zu schön... Können Texte auch „zu
wahr“ sein, oder eben „zu gut“? (Heidegger sprach ja von den
„großen Drei“: dem Wahren, dem Schönen, dem Guten...). Ich
glaube, das Texte erst dann Texte sind, wenn sie gelesen und
verinnerlicht werden, und wenn sie dann wieder nach außen treten,
wenn auf die Texte reagiert wird – in welcher Form auch immer.
Manchmal tut so etwas dem Autor weh, die Schönheit des Vorgangs
liegt jedoch gerade darin, dass er seine Texte abgeben kann. Mein
Text wird Dein Text, Dein Text wird unserer Text.
Die Rezeption eines Textes gehört zum
Text. Texte haben eine Biographie, die von den Lesern mitgestaltet
wird. („Der Zauberberg“ von Thomas Mann ist längst nicht mehr
„Der Zauberberg“, den er 1924 veröffentlicht hat, und ich bin
sicher, dass das der Autor auch klar erkannt hat.) Die Schönheit
einer Biographie geht immer mit kleinen oder großen Schmerzen
einher. Und davon sollte man sich, so meine ich, nicht verabschieden.
22.04.2012
Unterwegs, jedoch irgendwie bereits eingetroffen
Das Kinderzimmer ist fertig, Wiege und Kommode stehen bereit, die ersten Klamotten sind gekauft, die Stoffwindeln ebenso. Irgendwann in den nächsten Wochen wird sie kommen, unsere Tochter, die bereits einen Namen hat, den wir allerdings noch nicht verraten wollen. Meine Lebensgefährtin Vanda und ich sind im Warten, sehr im Warten, das Warten macht im Moment die Hauptsache unseres Lebens aus.
Sie ist natürlich bereits da, unsere Tochter, sie ist im runden Bauch ihrer Mutter, der nicht nur rund, sondern auch schwer geworden ist. Vanda wackelt wie ein Schwan über den Flur, sitzt verträumt auf dem Hocker in der Küche, umfasst sanft seufzend mit ihren Händen den gespannten Innenraum, der längst unübersehbarer Außenraum geworden ist.
Manchmal meldet unsere Tochter sich. Was sie dann genau macht, ist nicht immer klar. Sie bewegt sich, kreiert von Innen aus zum Beispiel einen kleinen Buckel an der Bauchwand, wir versuchen dann festzustellen, ob sie gerade ihren Po dreht oder mit einem Fuß spielt. Und ja, wir haben deutlich bemerkt, dass sie nicht nur etwas macht, sondern auch mitmacht, sie reagiert auf unsere vorsichtigen Annäherungen, Martin Buber würde an dieser Stelle sagen: Sie ist bereits „dialogisch“ eingestellt.
Sie ist also da, allerdings irgendwie doch noch im Kommen, ich meine: Sie ist noch nicht „irdisch“ da, zwischen ihrer Präsenz in mir – in meinen Gefühlen und Vorstellungen ist sie sehr prominent anwesend – und ihrer handfesten Körperlichkeit, etwa drei Kilo schwer, befindet sich eine glatte Wand, die sie schützt, bedeckt, noch verborgen hält. Sie lässt sich nicht sehen, nicht riechen, kaum hören, nur indirekt betasten.
Ich habe in der letzten Zeit immer wieder versucht, in mir ein Empfinden dafür zu erwecken, was es heißt, in einem Mutterbauch zu sein. Wir alle waren einmal dort, nur die Aller-Aller-Allerwenigsten können sich an den Zustand erinnern, ich würde sagen: Das Leben hat es gerade so eingerichtet, dass wir uns daran nicht erinnern sollen. Das Sein im Mutterbauch ist alles, deswegen völlig unbewusst. „Alles“ ist uns grundsätzlich zu viel (bis wir sterben: Der Tod bringt „alles“ wieder zurück).
Als wir in der letzten Woche das Gestell der hängenden Wiege zusammen schraubten (danke Martin, Du hast es vor mehr als dreißig Jahren für deine Kinder gebaut!) und die süßen Klamotten in die Schubladen legten, wurde mir auf einmal klar: Unsere anreisende Tochter hat bereits die Regie ihres Lebens in die Hand genommen. Nein, sie wollte die Wiege nicht parallel an der Wand stehen haben, sondern quer zwischen Fenster und Wand. „Warum quer?“, fragte ich. „Weil ich das so will“, meinte sie. Ja richtig, das Gestell passt genau zwischen Fenster und Wand, genauer könnte es nicht sein...
Ich war in meinem Leben noch nie so intensiv auf bekannt Unbekanntes orientiert, vielleicht weil ich bereits 61 Jahre alt bin, vielleicht weil ich mich oft wie eine reife Melone fühle, vielleicht weil mir der Tod mittlerweile ein bisschen vertrauter ist – an dieser Schwelle fängt das Leben ja erst recht an. Ich war noch nie so subtil-fragil dialogisch eingerichtet, so offen für kleine Sachen, die groß sind, so bereit auf die kleinen Risse in der Haut meiner Seele zu schauen, dort, wo das vertiefte und unsichtbare Leben süß-sauer duftet, wo die unsichtbaren Farben nicht für die Augen sichtbar, sondern für die innere Ohren hörbar werden, wo Eigennamen nicht gesprochen, sondern gesungen werden.
Sie ist bereits da, jedoch noch unterwegs, und bringt das große Leben mit, das es bereits gibt. Ich warte und warte nicht. Und immer wieder gehe ich in ihr Zimmer, schaue auf die Wiege und staune darüber, dass die quere Position gerade zwischen Fenster und Wand passt. „Warum quer?“ Sie wird diese Frage, so bin ich sicher, mit ihrem Leben beantworten.