"Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.“ Ich mag diesen Satz von Rainer Maria Rilke sehr. Immer wieder taucht er in mir auf – und das nicht nur, wenn der Herbst im Kommen ist. Der Satz selbst ist, wovon er spricht: voll & mächtig.
Der Satz hat die Form einer reinen Mitteilung. Es gibt hinter den ausgesprochenen Worten eine Instanz, sagen wir mal „eine Seele“, die einer anderen Instanz, „Herr“ genannt, etwas mitteilt. Der Inhalt der Mitteilung umfasst zwei Aspekte. Erst wird gesagt, dass es Zeit ist, und dann, dass der Sommer sehr groß war. Der zweite Aspekt ist eine Erklärung für den ersten Aspekt. Es ist Zeit, weil der Sommer sehr groß war. Noch größer kann oder soll der Sommer nicht werden.
Formal gesprochen – so ist das mit Mitteilungen – muss der Satz so verstanden werden, dass die erste Instanz davon ausgeht, dass die zweite Instanz über einen Tatbestand informiert werden soll. Der „Herr“ scheint vielleicht nicht zu wissen, dass es Zeit ist; und auch scheint er nicht zu wissen, dass das aus dem Groß-Sein der Sommer folgt. (Dass der Sommer groß war, dürfte der Herr wissen.)
Trotzdem gibt es hier einen Haken. Etwas stimmt nicht. Der „Herr“ ist nämlich derjenige, der zuständig dafür ist, den Sommer zu beenden. „Die Seele“ ist dazu gar nicht im Stande. Trotzdem scheint „die Seele“ etwas zu wissen, was der zuständige „Herr“ offensichtlich nicht weiß. Wie aber kann „der Herr“ überhaupt den Sommer gestalten, wenn er ignorant ist in Bezug auf so etwas Wichtiges wie die richtige Zeit? Hat er, als es noch Frühling war, nicht gewusst, dass es Zeit wurde mit dem Sommer „anzufangen“? Und hat ihm „die Seele“ das mitgeteilt, etwa wie: „Herr: es ist Zeit, der Frühling war sehr grausam“? (Laut T.S. Eliot: „April is the cruellest month“)
In der allgemeinen Vorstellung macht es keinen Sinn, „dem Herrn“ mitzuteilen, dass es Zeit ist. Höchstens ist denkbar, dass gemeint wird, dass es für „die Seele“ die richtige Zeit ist. Der Satz würde dann eigentlich bedeuten: „Herr es ist Zeit für mich. Der Sommer darf für mich jetzt zu Ende gehen“. Diese triviale Interpretation liegt vor der Hand, scheint mir aber doch auch nicht so ganz zu stimmen, weil die Apostrophe „Herr“ sehr selbstbewusst, ja voll und mächtig am Anfang steht.
Die Anrede und die Worte die folgen, wirken nicht wie ein demütiges Gebet oder eine bescheidene persönliche Bitte. Nein, „die Seele“ erlaubt es sich, „dem Herrn“ selbstbewusst und ebenbürtig anzusprechen und zu einer Handlung zu bewegen. Man stellt sich eher einen selbstbewussten Untertan vor, der dem Souverän sagt: „Herr es ist Zeit. Der Feind ist zu mächtig geworden. Du sollst Krieg machen.“
Das mächtige Geheimnis des Satzes scheint mir in der Beziehung zwischen „der Seele“ und „dem Herrn“ zu liegen. Diese Beziehung ist aber alles andere als eindeutig. Immer wieder wenn der Satz in mir auftaucht – und das geschieht, wie gesagt: nicht nur dann, wenn der Herbst ansteht – erlebe ich eine Kraft, die mich zum Teilnehmer & Mitverantwortlichen & Mitgestalter macht. Ich befinde mich auf gleicher Augenhöhe mit den Göttern und mische mich ein. Ich teile den Göttern mit, dass es reicht; und ich merke, dass die Götter ihre Ohren groß und weit machen. Irgendwie scheinen sie meine Mitteilung zu brauchen.
Hat das Ende des Sommers und der Anfang des Herbstes etwas damit zu tun, was in den Seelen der Menschen vorgeht? Rainer Maria Rilke würde sagen: ja! Klar ist, dass die Seelen der Menschen auf eine passive Art und Weise mit den Jahreszeiten mit-leben. Der Verlauf der Jahreszeiten bestimmt die Stimmung des Menschen mit. Gilt das aber auch umgekehrt, so dass die Stimmung des Menschen den Verlauf der Jahreszeiten aktiv mitbestimmt? Auch hier würde Rilke sagen: ja!
In vielen Gedichten beschreibt Rilke die Natur, die Bäume & die Tiere, die Wälder, die Städte & die Straßen, die Kunstobjekte & die Jahreszeiten, als „larische Landschaften“, dass heißt, als Erscheinungen die sich nur augenscheinlich außerhalb von uns befinden. Die Brunnen & Brücken & Kathedralen & Hügel & Teiche schauen uns neugierig an mit den Augen der Laren (römische Haus- und Landschaftsgötter). Laut Rilke sind die Laren zu verstehen als Botschafter & Vermittler zwischen Menschen & Göttern.[i]
[i] Über diese Thema gibt es ein wunderschönes Buch: Rilkes larische Landschaft von Rudolf Eppelsheimer. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben, 1975