Wie viele Freunde habe ich? Als ich diese Frage beantworten wollte, enstand in weniger als zehn Minuten eine Liste von etwa zwanzig Personen. Ich hätte die Liste noch länger machen können, war aber darüber in Zweifel geraten, welche Kriterien ich eigentlich einsetzte. Um eine Sicht auf die spontanen Kriterien zu kriegen, habe ich dann mit Hilfe dieser Liste versucht eine Art Reihenfolge aufzustellen. Die Frage verwandelte sich: wer sind meine besten Freunde?
An der Spitze der Liste stehen nun fünf Personen. Nummer sechs, sieben und acht würde ich „ganz gute“ Freunde nennen, aber nicht „beste“ Freunde. An dieser Stelle scheint es also einen Unterschied zu geben. Irgendwie scheint es Freunde zu geben, die ich klar als meine „besten“ Freunde verstehe, und abgesehen davon „ganz gute“ Freunde, die aus irgendeinem Grund doch ein bisschen „weniger“ Freunde sind. Wenn ich in dieser Art und Weise weiter auf die Liste schaue, tauchen auch noch „gute“ Freunde und „ganz gute Bekannte“ auf. Alles was über zwanzig Menschen hinausgeht, würde ich einfach „gute Bekannte“ oder eben „Bekannte“ nennen. (Übrigens: meine Lebensgefährtin habe ich spontan nicht aufgelistet. Eine Frage für sich: Was ist der Unterschied zwischen Freunden und Geliebten?)
Heute möchte ich versuchen folgende Frage zu beantworten: haben die Beziehungen zu den fünf „besten“ Freunden etwas gemeinsam? Gibt es Gemeinsamkeiten?
Erst einmal stelle ich fest, dass es um drei Männer und zwei Frauen geht. Die Männer sind alle ungefähr so alt wie ich, zwischen fünfzig und sechzig. Die beide Frauen hingegen sind um einiges jünger bzw. älter. Die berufliche Tätigkeiten diese fünf Menschen liegen weit auseinander. Alle fünf haben Kinder, drei leben innerhalb einer Familie, zwei leben getrennt.
Alle fünf Freunde kenne ich schon länger. An dieser Stelle fällt mir eine signifikante gemeinsame Gegebenheit ein, die Tatsache nämlich, dass die Begegnung mit allen fünf Freunden direkt oder indirekt mit einem Buch von Bernard Lievegoed[i], das ich 1993 veröffentlicht habe, zu tun hat. (Einen der Freunde kannte ich schon vorher als „guten“ Bekannten – im Rahmen gemeinsamer Aktivitäten, die mit dem Buch von Lievegoed zusammenhängen, ist er dann später ein „bester“ Freund geworden.) Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass das Buch und meine Beziehung als Herausgeber dazu, eine Wende in mein Leben gebracht haben. Die fünf Freunde haben mit dieser Wende zu tun, ja gingen gleichsam aus ihr hervor.
Es gibt aber natürlich auch noch viel mehr Leute, die ich über das Buch von Lievegoed kennengelernt habe. (Und natürlich auch viele, die gar nichts mit dem Buch zu tun haben.) Was macht also diese fünf Freundschaften aus, was bringt mich dazu zu sagen, dass sie meine besten Freunden, meine wichtigsten Freundschaften sind?
Heute meine ich drei Aspekte zu erkennen. Der erste ist, dass sie mich sehen & verstehen & unterstützen als jemanden mit einer Aufgabe, die zwar mit dem Buch von Lievegoed zusammenhängt, gleichzeitig aber eigenständig mit meiner eigenen Biographie verbunden ist. Eigentlich müsste ich sagen, dass diese fünf das in gewisser Hinsicht besser verstehen oder verstanden haben als ich selbst. Sie haben mich mir und anderen gegenüber energisch & positiv & erwartungsvoll „vertreten“. Ich würde sagen, dass ich aus diesen fünf Freunden hervorgegangen bin. Sie wollten und wollen, dass ich wurde und werde, was ich in ihren Augen schon war und bin. Uneingeschränkt wollten und wollen sie das Gute für mich.
Und umgekehrt war und ist genau das Gleiche der Fall. So unterschiedlich die fünf Freunde sind, in mir rufen sie alle eine Art Sehnsucht hoch: ich möchte & wünsche mir & will, dass sie blühen. Und ich verstehe diesbezüglich meine eigene Person als Partner und meine Biographie & Fähigkeiten & Möglichkeiten als Dünger. Oder vielleicht ganz anders und besser gesagt: die Sehnsucht danach, meine Freunde erblühen zu sehen, erzeugt in mir die Kraft & die Bereitschaft & die Kreativität mitzutanzen.
Ein zweiter Aspekt hat damit zu tun, was wir Vertrauen nennen. Ich glaube, ich kann gar nichts dazu sagen, warum zwischen mir und gerade diesen fünf Menschen ein uneingeschränktes Vertrauen herrscht. (Um ehrlich zu sein: ich wüsste nicht einmal, was Vertrauen eigentlich ist. Liebe?) Aber klar ist, dass wir gegenseitig bereit sind (oder den Wunsch haben, oder die Entscheidung getroffen haben), alle lichten und dunklen Aspekte des Lebens im Lichte der Sehnsucht-nach-dem-Erblühen zu sehen. Ohne Vertrauen geht das nicht.
Und ein dritter Aspekt ist, dass diese Freundschaften auch lebendig existieren, wenn wir einander länger nicht sehen oder sprechen. Eigentlich ist die Freundschaft gar nicht davon abhängig, ob wir einander öfters treffen oder nicht. Denn die fünf Freunde sprechen & klingen & agieren in mir. Ich kann mit ihnen innerlich „reden“, und das über alle Themen, die in meinem Leben anstehen. Und ich mache das auch.
Interessant ist dabei übrigens, dass in dieser Hinsicht jede freundschaftliche Verbindung eine Welt für sich darstellt. Freund A redet auf seine Art und Weise über ganz bestimmte Aspekte des Lebens mit mir, während Freund B das auf eine andere Art und Weise und über andere Aspekte des Lebens tut. Jede Freundschaft hat eine bestimmte Signatur, jeder Freund hat seinen eigenen Blick und seine eigene Landschaft.
[i] Bernard Lievegoed: Über die Rettung der Seele. Verlag Urachhaus, Stuttgart, 1994.