27.11.2009

Aus einem Manuskript (2). Über das neue Wort „Tuberkulose“

Als ich in Castricum ankam, konnte ich kaum noch auf meinen Füßen stehen. Im Wohnzimmer stand ein kleiner schwarzer Ofen mit kleinen Fenstern aus „Mica“. Was Mica war, hatte ich von meinem anderen Großvater gelernt: eine Schiefer Steinsorte, die durchsichtig war & nicht brennen konnte.

Ich sitze auf einem Kissen & blättere in einem Buch über die holländische Geschichte & schaue auf die Bilder von den Helden, die mir fremd sind. Mit Willem de Zwijger & Maurits & Michiel de Ruyter kann ich gar nichts anfangen; sie bleiben für mich blass & unbestimmt, wie kleine Häufchen Brotteig auf einem Küchentisch. Mein Großvater väterlicher Seite meinte aber: „Nimm dir die Helden als Vorbild!“

In dem Buch gibt es Bilder von Seeschlachten zwischen den Engländern & den Holländern. Auf hohen Wellen heben sich die Segler mit rot-weiß-blauen Fahnen & mutigen Männern & vor allem Kanonen, die Feuer spritzen. Überall Feuer. Ein englisches Schiff liegt schief zwischen zwei hohen & beinah brechenden Wellen & brennt & brennt... Und ich stelle mir die eigenartige Frage: wie ist es möglich, dass ich Zeuge eines Dramas bin, dass vor Hunderten von Jahren stattgefunden hat?

Ich schaue durch die Mica-Fenster in den Ofen & dort tobt die Schlacht weiter: ich sehe nur noch brennende Schiffe, brennende Fahnen, brennende Männer, ja, eben die Wellen lodern rot & gelb & blau. Ich bin Zeuge eines Geschehens, dass sich im Nu – hier & jetzt in Castricum – vollzieht. Schiffe gehen unter, Schiffe verschwinden hinter dem Horizont, Schiffe lösen sich im Feuer auf. Und ich höre die Stimmen von den holländischen Helden & den englischen Feiglingen – eine rot-rote Mischung von tierischer Freude & Todesängsten.

Meine Haut brennt. Ich spüre die Glut der Flammen auf meinen Wangen & Armen – ich schwitze & schwitze. Und irgendwie spüre ich, dass ich irgendwo angekommen bin, wo es nicht mehr weitergeht. Jetzt hört alles auf, jetzt höre ich auf, jetzt verzehren mich die Flammen, jetzt schluckt mich eine Geschichte, von der ich meinte: sie hat gar nichts mit mir zu tun. Und es ist wahr: irgendwo in diesem heißen Vorgang tauchte ein Wort auf, wie ein Vogel, das seitdem um mich herum wie ein Rätselbegriff flattert: das Wort Apokalypse.

Ich verlor mein Bewusstsein. Ich verschwand. Ich wurde über eine Schwelle geschoben. Ich war irgendwo anders. Und als ich nach drei Tagen wieder aufwachte, stand eine Krankenschwester neben mir, die mich lachend anschaute & sagte: „Du Armer, du hast Glück gehabt!“ Ich hörte, wie die Thermometer in ihrer Brusttasche klirrten. Und ich dachte: wie Vögel ohne Federn und ohne Fleisch. Ich schaute um mich herum & stellte fest: die Welt ist wieder kalt geworden.

Als später ein Arzt kam, lernte ich ein neues Wort kennen: „Tuberkulose“. Wir schrieben 1961.

20.11.2009

Aus einem Manuskript (1). Über einen Becher Milch in Ermelo

Ich stehe neben einer kleinen Wiese & stelle fest: ich bin genauso hoch, wie die braunen Pfähle des Zauns. Und ich sage es mir laut: „Jelle, du bist auf einmal richtig gewachsen!“ Wenn ich das sage, spüre ich die Hände meines Großvaters, die er gerade in diesem Moment von hinten auf meine Schultern legt.

„Was hast du gesagt?“, fragt er.
„Ich bin groß geworden“, antworte ich.
Mein Großvater lacht.

Auf der Wiese melkt der Bauer eine Kuh. Er sitzt auf einem kleinen Hocker, den er halb unter die Kuh geschoben hat – seine Beine streckt er unter dem riesigen Bauch des schwarz-weiß gefleckten Tieres aus. Mit seinen Händen berührt er die rosa Zitze der Kuh & die Milch spritzt für mich hörbar in den Zinneimer zwischen seinen Knien. Als er fertig ist, steht er auf & schaut um sich herum. Als er mich und meinen Großvater sieht, lacht er & sagt: „Du Kleiner, du hättest bestimmt gerne einen Becher frische Milch!“

An dieser Stelle hat meine Erinnerung eine kleine Lücke. Der Bauer steht jetzt vor mir, mit einem Becher in seiner Hand. Ich kann heute nicht sagen, woher er den geholt hat – in meiner Erinnerung ist er einfach auf einmal da. Der Bauer überreicht mir höflich den Becher, als wäre ich ein Prinz & sagt: „Für dich!“

Und ich trinke die Milch, die noch warm ist. Der Geruch der leicht schäumenden Masse & die leicht-schwere Substanz, die durch meine Kehle rinnt, gibt mir das Gefühl, als ob ich eine Minute lang eine Kuh bin. Das Tier, das ein paar Meter von mir entfernt, ohne etwas zu sehen, regungslos auf irgendetwas schaut, ist mir ganz nahe gekommen. Auf einmal verstehe ich, dass Kühe richtig existieren.

Mit diesem Schluck begann eine Reise in die Unterwelt.

In den Monaten die folgten, stand mein Großvater hinter mir, immer & immer; er war immer da, wie ein Schatten, der mich begleitete. Ich aber wurde immer dünner & dünner, schwächer & schwächer, lustloser & lustloser – und als ich klagte, sagte mein Vater: „Flauwekul“.

(Ohne das holländische Wort komme ich in dieser Erzählung nicht aus. Auf Deutsch würde man vielleicht so etwa sagen: „Quatsch!“ – klingt mir aber weniger vernichtend in den Ohren. Als mein Vater „flauwekul“ sagte, was er öfters tat, meinte er: „Schade, dass du selbst nicht einsiehst, welchen Unfug du redest.“)

Ich war also blöd. Anfang Dezember schaffte ich es kaum noch, die Treppen in unserer Wohnung hochzukommen, manchmal war mir kalt, manchmal heiß & ich hustete Blut, was ich aber geheim hielt, weil ich wusste, dass sich so etwas nicht gehört – Menschen husten ja kein Blut! Ich war der festen Überzeugung, dass ich grundsätzlich daneben war, auf allen Ebenen – und ich hielt es für weise, über meine Schieflage konsequent zu schweigen.

Zu Weihnachten wurde ich mit dem Zug zu meinen Großeltern väterlicherseits geschickt. Sie lebten in Castricum, nördlich von Amsterdam, zwei Kilometer vom Strand entfernt. Ich war dort nicht gerne, weil nie etwas geschah. Das Meer war immer Meer, mein Großvater war immer Großvater & meine Großmutter sagte nie etwas. Aufmerksame Blicke, bedeutungsvolle Worte, einladende Bewegungen – das alles gab es in Castricum nicht. (Fortsetzung nächste Woche.)

Mit Dank an Sophie Pannitschka

14.11.2009

Was der Beamte Enno Schmitz diese Woche zu erledigen hat

OB anrufen, Handy
Frau Ende anrufen (englisch?)
KSTA anrufen (Pappenheim)
80.000 Birnen?
Klaviermarken sortieren
- alphabetisch
- nach Herkunft
- nach Qualität (Preis!)
- Bilder nicht vergessen
Vermerk Bösendorfer!!!
Sitzung OdWG vorbereiten
StVergAbG lesen
Übersicht Rathenauplatz
Heidecker über Gegenstände???
Franzose über die Ordnung der Dinge???
Umstellen: HGOdWG §35 und §37b
Geld überweisen: Griet
Griet anrufen (schwanger?)
Reisekosten sortieren
Vorstand CDU-Köln schreiben
Protokoll lesen!!!
Und Düsseldorf?
Karte 1. FC für Maik (Bayern)
Maik anrufen (Griet schwanger?)
Medikamente
Auto waschen
Winterreifen!!!
Maik fragen?
Geburtstag Gertrud!!! (Freitag)

10.11.2009

Was hat er vor? Der Klavierspieler Johann reist morgen ab

Notizen Bösendorfer
Brief Mary Ending
Notizbuch (kaufen!!!)
Füller (von Magdalena)
Stift (von Alexander)
englisches Wörterbuch
Kalender
Lupe
Nagelschere
Notbrille
iPod
Arvo Pärth (downloaden)
Sting Wintersongs (???)
Goerke
die kleine Ikone (plus Kerze)
die neuen Socken
schwarze Hose
schwarze Unterhosen
die schwarzen Sportschuhe (sauber machen!!!)
Filzhut (suchen!!!)
Reisepass
Reiseführer
Zehn Blaue
Reiseaschenbecher
Feuerzeuge (drei)
Karte Devon
Fahrkarte Köln - London
Ticket London – Exeter
Hotel confirmation (noch ausdrucken)
Führerschein (nicht vergessen!!!)
Kreditkarte Dresdner Bank
Bargeld 100 Pfund Sterling
Hei 65
Malte
Handy (cell-phone)
Und: Adapter!!!
Ass 100
Procolaran
Leberwurst, fünf (REWE, Ja)

04.11.2009

Die Waldorferzieherin (4 – und Schluss). Die Bedeutung einer Bezeichnung

Ich bin zu folgender Schlussfolgerung gekommen: die Bezeichnung „Waldorferzieherin“ ist nicht nur berechtigt, sondern auch dringend notwendig. Der Einwand, dass damit ein „Etikett“ eingeführt wird, trifft nicht zu. Rein sprachlich betrachtet, unterscheidet sich eine Waldorferzieherin von einem Penner, einem Phänomenologen, einem Punker, einem Saxophonisten oder einem Biobäcker nicht.

Und außerdem: wenn es so etwas wie Waldorfpädagogik & Waldorferziehung & Waldorfkindergärten gibt, wieso sollte es dann keine Waldorferzieherin geben? Diese Frage hat noch niemand befriedigend beantwortet.

Es geht um eine Bezeichnung, so wie Bäume, Könige, Texte, Länder, Gegenstände, Stile auch bezeichnet werden. Kritisch wird es nur, wenn die Bezeichnung eine rechtliche Beschreibung beinhaltet, wenn also in Worten genau & präzise festgelegt wird, wer sich aus welchem Grund so nennen darf & wer nicht. Aber auch an dieser Stelle muss es kein Problem geben. Es könnte durchaus sein, dass zum Beispiel die Vereinigung der Waldorfkindergärten jemanden – nach bestimmten Verfahren, wie einer Ausbildung & praktischer Erfahrung – als Waldorferzieherin anerkennt, ohne jemand anderem verbieten zu wollen, sich auch so zu nennen.

Waldorferzieherinnen sind nicht unbedingt besser als andere Erzieherinnen. Sie kennzeichnen sich dadurch, dass sie eine bewusste Orientierung auf ein bestimmtes „geistiges“ Menschenbild haben & im Stande sind, die sozialen und pädagogischen Aufgaben dementsprechend zu handhaben. Dass auch andere Erzieherinnen sich unbewusst oder intuitiv auf ein „geistiges“ Menschenbild orientieren, scheint mir durchaus zu stimmen. Der Unterschied liegt aber in dem Begriff „bewusst“. Erst wenn man eine bewusste Beziehung hat, kann man innerlich frei seine Handlungen reflektieren.

Warum wird die Bezeichnung Waldorferzieherin gebraucht? Meine Zukunftsvision ist diese: Ich hoffe, dass wir in zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren so weit sind, dass Kitas & Kigas & was-es-alles-noch-geben-wird, sagen werden: wir brauchen in unserer Einrichtung eine Waldorferzieherin, weil sie etwas bringt, was für uns & die Kinder gut ist.

In der Zukunft, so hoffe ich, wird es nicht mehr selbstverständlich sein, dass eine Waldorferzieherin in einem Waldorfkindergarten arbeitet. Waldorferzieherinnen werden überall arbeiten. Nur auf diese Art und Weise kann der Impuls der anthroposophisch inspirierten Pädagogik, ein Kulturfaktor werden. Und ohne Menschen eine dementsprechende Bezeichnung zuzutrauen, wird das nicht gelingen.