31.08.2009

Die Schweine in Pamplona Alta. Über eine Gemeinschaft

In den Jahren, als ich immer wieder nach Lima geflogen bin, arbeitete die herrlich schreckliche Metropole an mir. Ich erinnere mich an die Schweine im Armenviertel von Pamplona Alta. Über dem ganzen Viertel hing ein Gestank, der sich tief in meinen Körper hinein bohrte & dazu führte, dass ich mich verschloss. Ich zog mich weit in mich zurück & konnte nur noch distanziert hinschauen.

Unter Strohdächern & Plastikfolien & Blechplatten, die über mehr als zehntausend Quadratmeter mit wackeligen Pfählen mehr oder wenig hoch gehalten werden, wurden hunderte von Schweinen gezüchtet. Der matschige Boden bestand aus Pisse & Scheiße; hier und da rotteten unbeachtet Schweinkadaver; Millionen von Fliegen bildeten Wolken, die auf die wenigen Stellen, auf die ein bisschen Sonnenlicht fiel, Schatten warfen. Zwischen den Schweinen gingen schweigende Männer barfuß herum, die mit Stöcken eine gewisse Ordnung bewahrten.

Wie wird man mit solchen Bildern fertig? Über die Empörung hinaus öffnete die Vorstellung einen hellen Raum in mir, in dem Totenstille herrschte. Dort standen Wahrheiten-ohne-Schatten, aufgebahrt wie regungslose Skulpturen unter senkrechtem Licht: die Grausamkeit des Instrumentalisierens der Tiere & die Notwendigkeit des Überlebens der Menschen & die Sinnlosigkeit der moralischen Urteile & das verzweifelte Verneinen von Bedeutungen & die unbegründete Hoffnung auf Humanität.

Licht ist manchmal hart. Kaltes Licht-von-oben treibt die Wahrheiten auseinander. Kaltes Licht tötet die Berührung & Beziehung & Verwandlung. (Meinte Friedrich Nietzsche nicht: das kalte Licht-der-Wahrheit zerstört Freundschaften?) Das kalte Licht hat eine düstere Quelle, die weit entfernt von uns seine Heimat hat, dort, wo die Sterne sich von uns wegbewegen, bis in ein Nichts, das noch nie berührt wurde & sich mit dem ständigen Näherkommen der Himmelskörper weiter zurückzieht & rückwärts ausweitet & den Raum-des-Nichts exponentiell vergrößert.

Die dunkle Gemeinschaft von Schweinen & Männern in Pamplona Alta ist ein Loch in der Menschlichkeit. Wenn ich drauf schaue, weiß ich nicht einmal, was ich sehe. Die Bilder-in-mir werden wie gefroren kaltgestellt & fixiert aufbewahrt in einem Raum, den ich nicht betreten kann. Und durch Frostfenster blicke ich dort hinein & beruhige mich dadurch, dass ich mir sage: die Schweine & Männer in Pamplona Alta sollte es nicht geben.

Was es aber auch gibt ist: ein warmes Licht, das die Wahrheiten verfließen lässt & entlarvt & ihnen ihren Stachel nimmt & noch bevor sie uns erreichen in Träume & Legenden & Nachrichten verwandelt. Die Quelle dieses Lichtes ist die Sonne. (In diesem Licht ist irgendwann einmal die Philosophie geboren worden, diese merkwürdige & paradoxe menschliche Tätigkeit, die zur Empfindung von Klarheit führen sollte. Geboren am Mittelmeer, groß geworden in dem großflächigen Land der Franken & ohnmächtig geworden auf der Insel mit der weiten Aussicht auf den unergründlich singenden Atlantik, weiß sie nicht mehr, was sie bringen darf: Wärme oder Kälte.)

In diesem sterbenden Licht steht mein Begleiter August. Er hebt seinen Kopf über die Philosophie hinaus, steigert seine Gedanken bis ins Poetische & berührt immer wieder mein Herz. Er sagt, was ich nicht denken kann. Über die Schweine & die Fliegen & die Scheiße & die Männer & die Salsa-Musik in Lima sagt er:

„Jelle, du hast recht, es ist eine Gemeinschaft. Auch wenn du es nicht denken kannst: die Tiere & die Menschen bilden dort eine gemeinsame Welt. In der Dumpfheit suchen sie eine Beziehung zu einander. Unter den Strohdächern & Plastikfolien & Blechplatten vermischen sich das Elend der Menschen & das Elend der Schweine.“

Und: „Verstehe dich bitte nicht als einen zufälligen Passanten, der mit der Schweinerei nichts zu tun hat. Du warst doch da? Du hast es doch gesehen? Du bist also voll beteiligt. Aus dem einfachen Grund, weil die Schweine & die Männer & die Schatten der Fliegen in dir herumgehen - du würdest sagen: in deinen Erinnerungen - bist du ein Mitglied dieser dunklen Gesellschaft geworden.“

Mit Dank an Sophie Pannitschka

26.08.2009

Von Vergangenem

Ich falle zurück
in die alte Sprache
der Sänger
des alten Glücks.

Mir sind die alten
Klänge genug,
die alten Träume
auch, sie blühten.

Die Wüste heiße ich
willkommen, denn Dürre
in alten Geschichten
verhieß Wachstum.

Ich preise den Fluss
und die Ufer,
denn einst waren sie
Übergang.

Ich zeichne den Berg
voll und ganz
denn hoch stand er
einst lachend.

Der letzte Friede
ist im Mond
der weint. Sein Schicksal
trägt den alten Namen

von Vergangenem.

(Zweite Fassung)
Übersetzt von Peer und Andrea. 23.08.2009

24.08.2009

Von Was ist vergangen

Ich falle zurück
in die alte Sprache
der Sänger
des alten Glücks.

Mir sind die alten
Klänge genug,
die alten Träume
auch, die blühten.

Die Wüste heisse ich
willkommen, denn Dürre
in alten Geschichten
verhiess Wachstum.

Ich preise den Fluss
und die Ufer,
denn einst waren sie
Übergang.

Ich zeichne den Berg
voll und ganz,
denn hoch stand er
einst lachend.

Der letzte Friede
ist im Mond
der heult. Sein Schicksal
trägt den alten Namen

von Was ist vergangen.

Übersetzt Peer und Andrea. 23.08.2009

23.08.2009

Van wat is vergaan

Ik val terug
in de oude taal
van de zangers
van oud geluk.

Mij zijn de oude
klanken genoeg,
de oude dromen
ook, die bloeiden.

De woestijn heet ik
welkom, want droogte
in oude verhalen
betekende groei.

Ik prijs de rivier
en de oevers,
want ooit waren zij
overgang.

Ik teken de berg
ten voeten uit,
want hoog stond hij
eens te lachen.

De laatste vrede
is in de maan
die huilt. Haar lot
draagt de oude naam

van wat is vergaan.

17.08.2009

August und Merel. Über ein Loch, Melancholie und Licht

August habe ich kennengelernt, als ich vor einigen Jahren im Krankenhaus war. Es war Hochsommer, die Stadt um mich herum badete in Licht & Wärme, und ich hatte gerade einen Herzinfarkt erlitten. Ich war ganz & gar nicht draußen, sondern bei mir, sehr nahe bei mir, irgendwie bei einem schwarzen Loch in mir, das sich in meiner Brust befand. Mein Herz, so meinte ich, war zerbrochen – und was sich offenbarte, war eine Öffnung in die Dunkelheit.

Ich starrte ins Schwarze. Das Loch schien mich einzuladen, es sagte: „Ich bin eine Grube, bitte fahre in mich ein“. Ich wollte das aber nicht, weil ich irgendwie spürte, dass ich mich in der Dunkelheit verlieren würde – das Loch schien mir bodenlos zu sein, ohne Treppen oder Durchgänge oder Rastplätze. Hinter dem Loch, befürchtete ich, gab es nur noch das Nichts.

Das Loch übermittelte mir gnadenlos eine schlechte Nachricht: „Du hast nicht richtig gelebt & du bist deswegen selber schuld.“ Doch gab es noch etwas. Ganz tief unten, wo meine Füße standen, herrschte sanft & kaum bemerkbar eine merkwürdige Stimmung, eine Art Sehnsucht, die sich am besten mit den Wörtern bitter & süß beschreiben lässt. Irgendetwas in mir & bei mir & neben mir verbreitete ein bitter-süßes Verlangen, das wie eine leise Bejahung wirkte, eine Verführung ins Nichts.

Als ich nach Tagen & Tagen endlich auf diese Stimmung da ganz unten schaute, sah ich eine kleine schwarze Gestalt, die genauso gut ein Vogel hätte sein können, weil sie sich wie ein lebendiger Haufen glatter Federn anfühlte. Und weil sie außerdem auch einen Schnabel hatte, der orange war, schien die Gestalt mir eine Amsel, oder mindestens mit dem bitter-süßen Singvogel verwandt zu sein.

In meiner Muttersprache heißt die Amsel „Merel“. Und Merel sagte: „Du hast mich erst nicht bemerkt, weil ich in deinem Schatten bin.“ Und ich meinte: „Ich habe gar keinen Schatten. Ich sehe nur ein schwarzes Loch.“ Und Merel: „Das Loch bist du. Warum hast du dich vom Sommerlicht abgewendet? Warum schaust du nur noch nach unten?“ Und ich: „Tue ich das?“ Merel: „Das Licht ist hinter dir. Bitte, drehe dich um!“

Als ich mich umdrehte, stand da groß & weit & blendend eine lächelnde Gestalt, die alles was ich draußen gelassen & vergessen hatte, zusammenzog & verdichtete & mir großzügig präsentierte. Und weil ich mir sicher war, dass die Gestalt ein Sommerwesen war, nannte ich sie „August“.

Seitdem lasse ich mich von August begleiten. Mittlerweile weiß ich, dass er viele Gesichter hat. In gewissem Sinne ist er sehr bescheiden & manchmal sogar fahrlässig, weil er sich nur einmischt, wenn ich nachdrücklich darum bitte. Er meldet sich nie von sich aus & ohne meinen Willen würde er quasi nicht existieren. Auch wenn das Loch sich in mir ausbreitet & ich dringend seine Hilfe brauche, bleibt er auf Distanz.

Wenn ich aber etwas von August erbitte, steht er sofort zur Verfügung & schenkt mir aus seiner Fülle immer wieder sommerliche Einblicke in das Leben, in die Welt, in mich. Seine mächtige Perspektive hat eine ganz bestimmte Qualität: er befindet sich immer in dem wunderbaren Übergang zwischen Blühen und zur Fruchtbildung neigen. Egal was ist, sein Blick sieht strahlende Blumen (immer mit einigen summenden Hummeln drum herum) & in den Blumen sieht er den Ansatz für die Samenbildung.

In der Neigung von der Blüten- zur Fruchtbildung wirkt ein Hauch Melancholie, ein „Herr, es ist Zeit, der Sommer war sehr groß!“ Im Vordergrund steht aber immer das große Vertrauen in Vorgänge, Ereignisse, Abläufe. August braucht eigentlich fast gar nichts, um gerade in der Neigung zum Abschied einen neuen Anfang zu erleben. So etwas Absolutes wie „aufhören“ & „verschwinden“ & „nichts“ gibt es in seinem Blick nicht. August sieht nur „alles“.

Die Frage wie & wo & warum August existiert, finde ich mühselig. Weil ich gerne Dichter bin, bleibe ich bei der einfachen Antwort, dass er meine literarische Schöpfung ist. Ich habe zwar nichts dagegen, ihn einen Engel zu nennen, bin mir aber nicht so sicher, ob dadurch nicht nur Missverständnisse erzeugt werden. Ich habe August einmal gefragt, ob er ein Engel wäre – er antwortete lachend: „Natürlich, natürlich, wenn du das magst! Bitte!“

03.08.2009

Die Verlangsamung zur Freiheit. Über die Lage der SPD

Mir ist nicht klar, worauf die SPD zusteuert. Irgendwie scheint der Begriff der Solidarität im Denken der Sozialdemokraten noch immer wichtig zu sein – unklar ist aber (geworden), wen die Solidarität betrifft. Die Arbeiter? Die Arbeitslosen? Die Armen? Die Schwächeren? Oder einfach die Bürger? Was der SPD fehlt, ist eine Vorstellung davon, welche Probleme die Menschen im Moment eigentlich haben.

In einem Papier, geschrieben für die „Grundwertekommission“ der SPD, schreiben Hans-Peter Bartels, Johann Strasser & Wolfgang Merkel, dass die Freiheit bedroht wird. Sie sehen in den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen eine direkte Bedrohung der bürgerlichen Freiheit. Nun darf es erst einmal eine Überraschung sein, dass gerade die Sozialdemokraten sich um die Freiheit kümmern – wäre das nicht eher ein Thema der FDP?

Wenn man den Text der drei Autoren liest, wird aber verständlich was gemeint ist. Das Papier geht über die üblichen Missverständnisse in Bezug auf die Frage der Freiheit hinaus. Ein Zitat: „Auch für Sozialdemokraten gilt: Der Referenzpunkt der Freiheit ist das Individuum. Das Individuum muss sich selbst als moralisches Subjekt, als eigenen Autor seines Lebens erkennen können. Dies erfordert eine Liste substantieller Freiheiten“. (Mit „substantiellen Freiheiten“ ist ein Begriff von Amartya Sen gemeint.)

Die drei Sozialdemokraten sehen die Bedrohung der Freiheit in einem Arbeitsethos, der in unserer Kultur in den letzten Jahrzehnten schleichend überhandgenommen hat. Noch ein Zitat: „Der Haken an der schönen neuen Arbeitswelt in der sogenannten Wissensökonomie, ist der Zwang zur Internalisierung ökonomischer Prinzipien und Herrschaftsstrukturen, ist die Tendenz zur Selbstüberforderung und zur Selbstinstrumentalisierung der Arbeitenden“.

Und: „Es ist der immense Druck, unter den die Arbeitenden geraten, wenn sie den objektivierten Kriterien größtmöglicher Effizienz in einem System universeller Konkurrenz genügen müssen. Ein Druck, der oft an die anderen im Team weitergegeben wird und nicht selten dazu führt, dass die weniger Leistungsfähigen gemobbt und am Ende hinausgemobbt werden“. Man könnte es auch einfach so sagen: „Immer Leistung, Leistung, Leistung... Macht das noch Spaß?“

Diese Analyse ist richtig. Eine sehr effektive Art und Weise den (freien) Geist zu töten ist, die Leute müde & leer & blass zu machen. Der offensichtlich selbst gewollte Arbeitsdruck führt dazu, dass die Beteiligten keine innere Beziehung mehr zu den Aufgaben haben. Und ohne innere Beziehung, keine Freiheit. Mit Michel Foucault muss man tatsächlich sagen: die Herrschaftsstrukturen sind internalisiert, das heißt: niemand außer mir hat noch die Verantwortung. Das berufliche Subjekt knechtet das Selbst.

Die SPD hat diesbezüglich ein Problem. Mir scheint der Chef Franz Müntefering den Inbegriff der Tüchtigkeit & des Anpackens & des Peitschens zu repräsentieren. Er scheint eben noch kräftiger als Guido Westerwelle sagen zu wollen: wir legen noch eines drauf! Was aus seiner Sicht ganz und gar nicht geschehen darf, ist, dass die politische Führung der SPD etwas wie Schwächen & Verunsicherungen & Intelligenz zeigt.

In seinem Schatten steht der Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier. Er ist wahrscheinlich ein ganz guter Administrator & intelligent & zu höflich, um Angela Merkel mit ihren Schattenseiten zu konfrontieren. Auf mich wirkt Steinmeier so, als ob er für das harte politische Handwerk zu nett wäre.

Weil ich Holländer bin, darf ich in Deutschland leider nicht wählen. Ich würde aber bestimmt einen Steinmeier wählen wollen, der offen & frei & lächelnd von seinen netten Unsicherheiten spricht. Ich wünschte mir eine SPD, die auf die drei genannten Sozialdemokraten hört & von Verlangsamung zur Freiheit redet. Damit wäre auf der politischen Ebene endlich endlich endlich das richtige Thema angesprochen. Steinmeier müsste sich dazu erst von Müntefering befreien. Aber dazu ist er wahrscheinlich zu nett.