Die Schweine in Pamplona Alta. Über eine Gemeinschaft
In den Jahren, als ich immer wieder nach Lima geflogen bin, arbeitete die herrlich schreckliche Metropole an mir. Ich erinnere mich an die Schweine im Armenviertel von Pamplona Alta. Über dem ganzen Viertel hing ein Gestank, der sich tief in meinen Körper hinein bohrte & dazu führte, dass ich mich verschloss. Ich zog mich weit in mich zurück & konnte nur noch distanziert hinschauen.
Unter Strohdächern & Plastikfolien & Blechplatten, die über mehr als zehntausend Quadratmeter mit wackeligen Pfählen mehr oder wenig hoch gehalten werden, wurden hunderte von Schweinen gezüchtet. Der matschige Boden bestand aus Pisse & Scheiße; hier und da rotteten unbeachtet Schweinkadaver; Millionen von Fliegen bildeten Wolken, die auf die wenigen Stellen, auf die ein bisschen Sonnenlicht fiel, Schatten warfen. Zwischen den Schweinen gingen schweigende Männer barfuß herum, die mit Stöcken eine gewisse Ordnung bewahrten.
Wie wird man mit solchen Bildern fertig? Über die Empörung hinaus öffnete die Vorstellung einen hellen Raum in mir, in dem Totenstille herrschte. Dort standen Wahrheiten-ohne-Schatten, aufgebahrt wie regungslose Skulpturen unter senkrechtem Licht: die Grausamkeit des Instrumentalisierens der Tiere & die Notwendigkeit des Überlebens der Menschen & die Sinnlosigkeit der moralischen Urteile & das verzweifelte Verneinen von Bedeutungen & die unbegründete Hoffnung auf Humanität.
Licht ist manchmal hart. Kaltes Licht-von-oben treibt die Wahrheiten auseinander. Kaltes Licht tötet die Berührung & Beziehung & Verwandlung. (Meinte Friedrich Nietzsche nicht: das kalte Licht-der-Wahrheit zerstört Freundschaften?) Das kalte Licht hat eine düstere Quelle, die weit entfernt von uns seine Heimat hat, dort, wo die Sterne sich von uns wegbewegen, bis in ein Nichts, das noch nie berührt wurde & sich mit dem ständigen Näherkommen der Himmelskörper weiter zurückzieht & rückwärts ausweitet & den Raum-des-Nichts exponentiell vergrößert.
Die dunkle Gemeinschaft von Schweinen & Männern in Pamplona Alta ist ein Loch in der Menschlichkeit. Wenn ich drauf schaue, weiß ich nicht einmal, was ich sehe. Die Bilder-in-mir werden wie gefroren kaltgestellt & fixiert aufbewahrt in einem Raum, den ich nicht betreten kann. Und durch Frostfenster blicke ich dort hinein & beruhige mich dadurch, dass ich mir sage: die Schweine & Männer in Pamplona Alta sollte es nicht geben.
Was es aber auch gibt ist: ein warmes Licht, das die Wahrheiten verfließen lässt & entlarvt & ihnen ihren Stachel nimmt & noch bevor sie uns erreichen in Träume & Legenden & Nachrichten verwandelt. Die Quelle dieses Lichtes ist die Sonne. (In diesem Licht ist irgendwann einmal die Philosophie geboren worden, diese merkwürdige & paradoxe menschliche Tätigkeit, die zur Empfindung von Klarheit führen sollte. Geboren am Mittelmeer, groß geworden in dem großflächigen Land der Franken & ohnmächtig geworden auf der Insel mit der weiten Aussicht auf den unergründlich singenden Atlantik, weiß sie nicht mehr, was sie bringen darf: Wärme oder Kälte.)
In diesem sterbenden Licht steht mein Begleiter August. Er hebt seinen Kopf über die Philosophie hinaus, steigert seine Gedanken bis ins Poetische & berührt immer wieder mein Herz. Er sagt, was ich nicht denken kann. Über die Schweine & die Fliegen & die Scheiße & die Männer & die Salsa-Musik in Lima sagt er:
„Jelle, du hast recht, es ist eine Gemeinschaft. Auch wenn du es nicht denken kannst: die Tiere & die Menschen bilden dort eine gemeinsame Welt. In der Dumpfheit suchen sie eine Beziehung zu einander. Unter den Strohdächern & Plastikfolien & Blechplatten vermischen sich das Elend der Menschen & das Elend der Schweine.“
Und: „Verstehe dich bitte nicht als einen zufälligen Passanten, der mit der Schweinerei nichts zu tun hat. Du warst doch da? Du hast es doch gesehen? Du bist also voll beteiligt. Aus dem einfachen Grund, weil die Schweine & die Männer & die Schatten der Fliegen in dir herumgehen - du würdest sagen: in deinen Erinnerungen - bist du ein Mitglied dieser dunklen Gesellschaft geworden.“
Mit Dank an Sophie Pannitschka